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296 Am 5. Februar 1928 kommt Josephine Baker am
Wiener Westbahnhof an. Sie reist im eigenen Luxus-
waggon. Doch sie bleibt nicht lange in der Stadt, bald
fährt sie weiter Richtung Semmering.1 Dort will sie
ein paar Urlaubstage verbringen. Anschließend soll
sie in Wien auf der Bühne stehen – vereinbart ist eine
Revue im Varietétheater Ronacher. Wien ist die erste
Station einer zweijährigen Europa- und Südamerika-
tournee, die sie in fünfzehn Städte führen wird. Von
Wien über Berlin, Budapest, Bukarest, dann nach
Skandinavien und schließlich nach Santiago de Chile.
Als sie in Wien aus dem Zug steigt, ist sie in Wirk-
lichkeit schon längst angekommen: Die Bilder ihrer
legendären Nacktauftritte sind allseits bekannt. Im
April 1927 bringt die Zeitschrift Die Bühne ein ko-
loriertes Foto von Josephine Baker auf der Titelseite
(Abb.
1).2 Die Aufnahme stammt von der bekannten
Wiener Atelierfotografin Madame d’Ora, die im sel-
ben Jahr ihren geschäftlichen Mittelpunkt von Wien
nach Paris verlegt hat. Die schwarze Tänzerin wird
mit nacktem Oberkörper gezeigt, sie ist nur mit ei-
nem Kopftuch bekleidet, in der Hand hält sie kokett
einen Wedel. Die exotischen Masken im Hintergrund
geben der Tänzerin den Anstrich des Wilden und Un-
zivilisierten. Zugleich verkörpert sie die enthemmte,
ungezügelte Sexualität. Wenig später, im August 1927,
berichtet die Zeitschrift Mein Film über die Urauffüh-
rung des Films „Ein Rutscher nach Paris“ (1926) in
Wien. Josephine Baker spielt darin die Hauptrolle.3
Josephine Baker weiß um ihre sexuelle Anzie-
hungskraft. Geschickt inszeniert sie sich in wech-
selnden Rollen auf der Bühne. Ebenso geschickt aber
kultiviert sie ihr Image in fotografischen Bildern.
1927 lichtet Madame d’Ora die Tänzerin zum ersten
Mal in Paris ab. In den folgenden Jahren porträtiert
die österreichische Fotografin den Star im Auftrag
von illustrierten Zeitungen und Journalen unzählige
Male. D’Ora ist eine Meisterin des sinnlichen, eroti-
schen Frauenporträts. In Josephine Baker findet sie ein wandlungsfähiges fotogenes Gegenüber, das ihre
Rolle vor der Kamera perfekt spielt. Sie tritt in immer
neuen Bildern auf, einmal elegant entweder als Frau
oder als Mann gekleidet, dann wieder clownesk und
schließlich in der Rolle, in der man sie stets erwartet:
halb oder fast ganz nackt, vertieft in einen orgias-
tischen Tanz. Mit Leichtigkeit wechselt sie Gewand,
Ausstrahlung, Image. Madame d’Ora begleitet sie auf
diesem Parcours der Verwandlungen. Die Fotografin
ist eine Art Spiegel, der die Theatralik der Baker auf-
nimmt und in ein haltbares öffentliches Bild über-
trägt. D’Ora lichtet nicht nur Josephine Baker, son-
dern zahlreiche andere Bühnenstars ab. Nicht selten
lüftet sie dezent das Gewand der Porträtierten. Fast
nie aber lassen ihre Protagonisten die Hüllen gänz-
lich fallen. Die Fotografin modelliert Sinnlichkeit, An-
ziehung und Erotik mithilfe raffinierter Lichtführung.
Ihre Strategie liegt nicht in der brutalen Entblößung,
sondern in der erotischen Andeutung. Immer wieder
balanciert sie in ihren Bildern gekonnt zwischen se-
xueller Verfügbarkeit und subtilem Entzug (Abb.
2).
Josephine Baker in
Wien
Im Februar 1928 berichten die Zeitungen ausführ-
lich über die „Pariser Sensation“. Jedes Detail der
Reise von Josephine Baker wird in der Öffentlichkeit
verhandelt. Die Journalisten wissen sogar darüber
Bescheid, was der anrüchige Star auf Reisen mit sich
führt: 15 große Schiffskoffer, darin verpackt 137 Klei-
der und Kostüme, 196 Paar Schuhe, 64 Kilo Schmink-
puder und natürlich – das legendäre Bananenröck-
chen.4 Die Baker versetzt Wien in helle Aufregung.
Die konservativen Blätter wettern gegen ihren geplan-
ten Auftritt, liberale Stimmen verteidigen ihn vehe-
ment. Die erregte Debatte zieht sich über Wochen
hin.5 Ende Februar erreicht sie sogar den Nationalrat.
Christlichsoziale Redner fordern ein Auftrittsverbot.
Und tatsächlich: Zur Revue im Ronacher wird es nicht
Wenn die Hüllen fallen ·
Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der
Zwischenkriegszeit22
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus.
- Subtitle
- Fotografie, Presse und Gesellschaft in Österreich 1890 bis 1945
- Author
- Anton Holzer
- Publisher
- Primus Verlag
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-86312-073-3
- Size
- 23.0 x 29.0 cm
- Pages
- 498
- Keywords
- Fotojournalismus, Pressefotografie, Fotografie, Fotografiegeschichte, Mediengeschichte, Kulturgeschichte, Populärkultur, Österreich
- Category
- Medien
Table of contents
- Auf den Spuren der rasenden Reporter Vorwort 7
- Neue illustrierte Welt Einleitung 10
- Bilder, Nachrichten, Sensationen Die Zeitungsstadt Wien um 1900 22
- Die Jagd nach Sensationen Pioniere der Pressefotografie 36
- Fotos statt Zeichnungen Das Entstehen einer fotografischen Öffentlichkeit 51
- Bild und Text Die Rhetorik der Zeitungsseiten 59
- Redaktion, Druck, Vertrieb Wie eine illustrierte Zeitschrift entsteht 70
- Im Rampenlicht Der Kaiser im Blick der Fotografen 77
- Als die Männer fliegen lernten Die ersten Wiener Flugschauen 91
- Mit der Kamera bewaffnet Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg 105
- Theater der Macht Parlament und Politik in Bildern 117
- Kampf um die Straße Demonstrationen, Kundgebungen und Massenpolitik 134
- Im Schatten der Konzerne Politische Illustrierte in der Zwischenkriegszeit 145
- Bilder für alle Die Welt der Magazine und Revuen 170
- Bilder als Propaganda Die illustrierte Regierungspresse nach 1934 194
- Erzählende Bilder Die moderne Fotoreportage in der Zwischenkriegszeit 203
- Handel mit Bildern Die Rolle der Fotoagenturen 234
- Politische Bilder Die Kultur der Arbeiterfotografie 248
- Amerika, ein Traum Wolkenkratzer und Tiller Girls 263
- Bubikopf und Zigarette Bilder der „Neuen Frau“ 277
- Experiment und Bewegung Tanzschritte in eine neue Zeit 286
- Wenn die Hüllen fallen Erotik, Sexualität und Nacktfotografie in der Zwischenkriegszeit 296
- Schöne neue Warenwelt Reklame und Mode in der Fotografie 304
- Dramatische Nähe Sport und Fotografie 317
- Frauen hinter der Kamera Die neuen Fotografinnen 331
- Die kurze Zeit der Avantgarde Fotografische Aufbrüche um 1930 344
- Landschaft, Berge, Brauchtum Heimatfotografie in den 1930er Jahren 363
- Fotografisches Feuilleton „Der Sonntag”: ein vergessenes Forum moderner Reportagefotografie 378
- Demagogie in Bildern Hitler in Österreich 1938 411
- Den Krieg vor Augen Nationalsozialistische Medienpolitik und Ästhetik 419
- Eine andere Kulturgeschichte Schluss 437
- Anhang