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Dass eure Tugend euer Selbst sei und nicht ein Fremdes, eine Haut, eine
Bemäntelung: das ist die Wahrheit aus dem Grunde eurer Seele, ihr
Tugendhaften! –
Aber wohl giebt es Solche, denen Tugend der Krampf unter einer Peitsche
heisst: und ihr habt mir zuviel auf deren Geschrei gehört!
Und Andre giebt es, die heissen Tugend das Faulwerden ihrer Laster; und
wenn ihr Hass und ihre Eifersucht einmal die Glieder strecken, wird ihre
»Gerechtigkeit« munter und reibt sich die verschlafenen Augen.
Und Andre giebt es, die werden abwärts gezogen: ihre Teufel ziehn sie.
Aber je mehr sie sinken, um so glĂĽhender leuchtet ihr Auge und die Begierde
nach ihrem Gotte.
Ach, auch deren Geschrei drang zu euren Ohren, ihr Tugendhaften: was
ich nicht bin, das, das ist mir Gott und Tugend!’
Und Andre giebt es, die kommen schwer und knarrend daher, gleich
Wägen, die Steine abwärts fahren: die reden viel von Würde und Tugend, –
ihren Hemmschuh heissen sie Tugend!
Und Andre giebt es, die sind gleich Alltags-Uhren, die aufgezogen wurden;
sie machen ihr Tiktak und wollen, dass man Tiktak – Tugend heisse.
Wahrlich, an Diesen habe ich meine Lust: wo ich solche Uhren finde,
werde ich sie mit meinem Spotte aufziehn; und sie sollen mir dabei noch
schnurren!
Und Andre sind stolz ĂĽber ihre Handvoll Gerechtigkeit und begehen um
ihrerwillen Frevel an allen Dingen: also dass die Welt in ihrer Ungerechtigkeit
ertränkt wird.
Ach, wie übel ihnen das Wort »Tugend« aus dem Munde läuft! Und wenn
sie sagen: »ich bin gerecht,« so klingt es immer gleich wie: »ich bin gerächt!«
Mit ihrer Tugend wollen sie ihren Feinden die Augen auskratzen; und sie
erheben sich nur, um Andre zu erniedrigen.
Und wiederum giebt es Solche, die sitzen in ihrem Sumpfe und reden also
heraus aus dem Schilfrohr: »Tugend – das ist still im Sumpfe sitzen.
Wir beissen Niemanden und gehen Dem aus dem Wege, der beissen will;
und in Allem haben wir die Meinung, die man uns giebt.«
Und wiederum giebt es Solche, die lieben Gebärden und denken: Tugend
ist eine Art Gebärde.
Ihre Kniee beten immer an, und ihre Hände sind Lobpreisungen der
Tugend, aber ihr Herz weiss Nichts davon.
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Also sprach Zarathustra
- Title
- Also sprach Zarathustra
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1885
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 354
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Zarathustras Vorrede 2
- Teil 1 - Die Reden Zarathustras 19
- Von den drei Verwandlungen 20
- Von den LehrstĂĽhlen der Tugend 22
- Von den Hinterweltlern 25
- Von den Verächtern des Leibes 28
- Von den Freuden- und Leidenschaften 30
- Vom bleichen Verbrecher 32
- Vom Lesen und Schreiben 34
- Vom Baum am Berge 36
- Von den Predigern des Todes 39
- Vom Krieg und Kriegsvolke 41
- Vom neuen Götzen 43
- Von den Fliegen des Marktes 46
- Von der Keuschheit 49
- Vom Freunde 51
- Von tausend und Einem Ziele 53
- Von der Nächstenliebe 55
- Vom Wege des Schaffenden 57
- Von alten und jungen Weiblein 60
- Vom Biss der Natter 63
- Von Kind und Ehe 65
- Vom freien Tode 67
- Von der schenkenden Tugend 70
- Teil 2 - Also sprach Zarathustra 75
- Das Kind mit dem Spiegel 77
- Auf den glĂĽckseligen Inseln 80
- Von den Mitleidigen 83
- Von den Priestern 86
- Von den Tugendhaften 89
- Vom Gesindel 92
- Von den Taranteln 95
- Von den berĂĽhmten Weisen 98
- Das Nachtlied 101
- Das Tanzlied 103
- Das Grablied 106
- Von der Selbst-Ueberwindung 109
- Von den Erhabenen 112
- Vom Lande der Bildung 115
- Von der unbefleckten Erkenntniss 118
- Von den Gelehrten 121
- Von den Dichtern 123
- Von grossen Ereignissen 126
- Der Wahrsager 130
- Von der Erlösung 134
- Von der Menschen-Klugheit 139
- Die stillste Stunde 142
- Teil 3 - Also sprach Zarathustra 145
- Der Wanderer 147
- Vom Gesicht und Räthsel 150
- Von der Seligkeit wider Willen 155
- Vor Sonnen-Aufgang 158
- Von der verkleinernden Tugend 161
- Auf dem Oelberge 167
- Vom VorĂĽbergehen 170
- Von den AbtrĂĽnnigen 173
- Die Heimkehr 178
- Von den drei Bösen 182
- Vom Geist der Schwere 187
- Von alten und neuen Tafeln 191
- Der Genesende 222
- Von der groĂźen Sehnsucht 228
- Das andere Tanzlied 231
- Die sieben Siegel 236
- Teil 4 - Also sprach Zarathustra 243
- Das Honig-Opfer 245
- Der Notschrei 248
- Gespräch mit den Königen 251
- Der Blutegel 256
- Der Zauberer 259
- AuĂźer Dienst 267
- Der häßlichste Mensch 271
- Der freiwillige Bettler 276
- Der Schatten 280
- Mittags 283
- Die BegrĂĽĂźung 286
- Das Abendmahl 291
- Vom höheren Menschen 293
- Das Lied der Schwermut 313
- Von der Wissenschaft 319
- Unter Töchtern der Wüste 322
- Die Erweckung 330
- Das Eselsfest 334
- Das trunkne Lied 339
- Das Zeichen 352