Page - 246 - in Also sprach Zarathustra
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Was opfern! Ich verschwende, was mir geschenkt wird, ich Verschwender
mit tausend Händen: wie dürfte ich das noch – opfern heißen!
Und als ich nach Honig begehrte, begehrte ich nur nach Köder und süßem
Seime und Schleime, nach dem auch Brummbären und wunderliche
mürrische böse Vögel die Zunge lecken:
– nach dem besten Köder, wie er Jägern und Fischfängern nottut. Denn
wenn die Welt wie ein dunkler Tierwald ist und aller wilden Jäger Lustgarten,
so dünkt sie mich noch mehr und lieber ein abgründliches reiches Meer,
– ein Meer voll bunter Fische und Krebse, nach dem es auch Götter
gelüsten möchte, daß sie an ihm zu Fischern würden und zu Netz-
Auswerfern: so reich ist die Welt an Wunderlichem, großem und kleinem!
Sonderlich die Menschen-Welt, das Menschen-Meer – nach dem werfe ich
nun meine goldene Angelrute aus und spreche: tue dich auf, du Menschen-
Abgrund!
Tue dich auf und wirf mir deine Fische und Glitzer-Krebse zu! Mit meinem
besten Köder ködere ich mir heute die wunderlichsten Menschen-Fische!
– mein Glück selber werfe ich hinaus in alle Weiten und Fernen, zwischen
Aufgang, Mittag und Niedergang, ob nicht an meinem Glücke viele
Menschen-Fische zerrn und zappeln lernen.
Bis sie, anbeißend an meine spitzen verborgenen Haken, hinauf müssen
in meine Höhe, die buntesten Abgrund-Gründlinge zu dem boshaftigsten aller
Menschen-Fischfänger.
Der nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend,
hinaufziehend, aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich
nicht umsonst einstmals zusprach: »Werde, der du bist!«
Also mögen nunmehr die Menschen zu mir hinauf kommen: denn noch
warte ich der Zeichen, daß es Zeit sei zu meinem Niedergange; noch gehe ich
selber nicht unter, wie ich muß, unter Menschen.
Dazu warte ich hier, listig und spöttisch auf hohen Bergen, kein
Ungeduldiger, kein Geduldiger, vielmehr einer, der auch die Geduld verlernt
hat – weil er nicht mehr »duldet«.
Mein Schicksal nämlich läßt mir Zeit: es vergaß mich wohl? Oder sitzt es
hinter einem großen Steine im Schatten und fängt Fliegen?
Und wahrlich, ich bin ihm gut darob, meinem ewigen Schicksale, daß es
mich nicht hetzt und drängt und mir Zeit zu Possen läßt und Bosheiten: also
daß ich heute zu einem Fischfange auf diesen hohen Berg stieg.
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Also sprach Zarathustra
- Title
- Also sprach Zarathustra
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1885
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 354
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Zarathustras Vorrede 2
- Teil 1 - Die Reden Zarathustras 19
- Von den drei Verwandlungen 20
- Von den Lehrstühlen der Tugend 22
- Von den Hinterweltlern 25
- Von den Verächtern des Leibes 28
- Von den Freuden- und Leidenschaften 30
- Vom bleichen Verbrecher 32
- Vom Lesen und Schreiben 34
- Vom Baum am Berge 36
- Von den Predigern des Todes 39
- Vom Krieg und Kriegsvolke 41
- Vom neuen Götzen 43
- Von den Fliegen des Marktes 46
- Von der Keuschheit 49
- Vom Freunde 51
- Von tausend und Einem Ziele 53
- Von der Nächstenliebe 55
- Vom Wege des Schaffenden 57
- Von alten und jungen Weiblein 60
- Vom Biss der Natter 63
- Von Kind und Ehe 65
- Vom freien Tode 67
- Von der schenkenden Tugend 70
- Teil 2 - Also sprach Zarathustra 75
- Das Kind mit dem Spiegel 77
- Auf den glückseligen Inseln 80
- Von den Mitleidigen 83
- Von den Priestern 86
- Von den Tugendhaften 89
- Vom Gesindel 92
- Von den Taranteln 95
- Von den berühmten Weisen 98
- Das Nachtlied 101
- Das Tanzlied 103
- Das Grablied 106
- Von der Selbst-Ueberwindung 109
- Von den Erhabenen 112
- Vom Lande der Bildung 115
- Von der unbefleckten Erkenntniss 118
- Von den Gelehrten 121
- Von den Dichtern 123
- Von grossen Ereignissen 126
- Der Wahrsager 130
- Von der Erlösung 134
- Von der Menschen-Klugheit 139
- Die stillste Stunde 142
- Teil 3 - Also sprach Zarathustra 145
- Der Wanderer 147
- Vom Gesicht und Räthsel 150
- Von der Seligkeit wider Willen 155
- Vor Sonnen-Aufgang 158
- Von der verkleinernden Tugend 161
- Auf dem Oelberge 167
- Vom Vorübergehen 170
- Von den Abtrünnigen 173
- Die Heimkehr 178
- Von den drei Bösen 182
- Vom Geist der Schwere 187
- Von alten und neuen Tafeln 191
- Der Genesende 222
- Von der großen Sehnsucht 228
- Das andere Tanzlied 231
- Die sieben Siegel 236
- Teil 4 - Also sprach Zarathustra 243
- Das Honig-Opfer 245
- Der Notschrei 248
- Gespräch mit den Königen 251
- Der Blutegel 256
- Der Zauberer 259
- Außer Dienst 267
- Der häßlichste Mensch 271
- Der freiwillige Bettler 276
- Der Schatten 280
- Mittags 283
- Die Begrüßung 286
- Das Abendmahl 291
- Vom höheren Menschen 293
- Das Lied der Schwermut 313
- Von der Wissenschaft 319
- Unter Töchtern der Wüste 322
- Die Erweckung 330
- Das Eselsfest 334
- Das trunkne Lied 339
- Das Zeichen 352