Page - 249 - in Also sprach Zarathustra
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schwarzen Meere kommen. Aber was geht mich Menschen-Not an! Meine
letzte Sünde, die mir aufgespart blieb, weißt du wohl, wie sie heißt?«
– »Mitleiden!« antwortete der Wahrsager aus einem überströmenden
Herzen und hob beide Hände empor – »o Zarathustra, ich komme, daß ich
dich zu deiner letzten Sünde verführe!« –
Und kaum waren diese Worte gesprochen, da erscholl der Schrei abermals,
und länger und ängstlicher als vorher, auch schon viel näher.
»Hörst du? Hörst du, o Zarathustra?« rief der Wahrsager, »dir gilt der
Schrei, dich ruft er: komm, komm, komm, es ist Zeit, es ist höchste Zeit!« –
Zarathustra schwieg hierauf, verwirrt und erschüttert; endlich fragte er, wie
einer, der bei sich selber zögert: »Und wer ist das, der dort mich ruft?«
»Aber du weißt es ja«, antwortete der Wahrsager heftig, »was verbirgst du
dich? Der höhere Mensch ist es, der nach dir schreit!«
»Der höhere Mensch?« schrie Zarathustra von Grausen erfaßt: »was
will der? Was will der? Der höhere Mensch! Was will der hier?« – und seine
Haut bedeckte sich mit Schweiß.
Der Wahrsager aber antwortete nicht auf die Angst Zarathustras, sondern
horchte und horchte nach der Tiefe zu. Als es jedoch lange Zeit dort stille
blieb, wandte er seinen Blick zurück und sahe Zarathustra stehn und zittern.
»O Zarathustra«, hob er mit trauriger Stimme an, »du stehst nicht da wie
einer, den sein Glück drehend macht: du wirst tanzen müssen, daß du mir
nicht umfällst!
Aber wenn du auch vor mir tanzen wolltest und alle deine Seitensprünge
springen: niemand soll mir doch sagen dürfen: ›Siehe, hier tanzt der letzte
frohe Mensch!‹
Umsonst käme einer auf diese Höhe, der den hier suchte: Höhlen fände er
wohl und Hinter-Höhlen, Verstecke für Versteckte, aber nicht Glücks-
Schachte und Schatzkammern und neue Glücks-Goldadern.
Glück – wie fände man wohl das Glück bei solchen Vergrabenen und
Einsiedlern! Muß ich das letzte Glück noch auf glückseligen Inseln suchen
und ferne zwischen vergessenen Meeren?
Aber alles ist gleich, es lohnt sich nichts, es hilft kein Suchen, es gibt auch
keine glückseligen Inseln mehr!« – –
Also seufzte der Wahrsager; bei seinem letzten Seufzer aber wurde
Zarathustra wieder hell und sicher, gleich einem, der aus einem tiefen
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Also sprach Zarathustra
- Title
- Also sprach Zarathustra
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1885
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 354
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Zarathustras Vorrede 2
- Teil 1 - Die Reden Zarathustras 19
- Von den drei Verwandlungen 20
- Von den Lehrstühlen der Tugend 22
- Von den Hinterweltlern 25
- Von den Verächtern des Leibes 28
- Von den Freuden- und Leidenschaften 30
- Vom bleichen Verbrecher 32
- Vom Lesen und Schreiben 34
- Vom Baum am Berge 36
- Von den Predigern des Todes 39
- Vom Krieg und Kriegsvolke 41
- Vom neuen Götzen 43
- Von den Fliegen des Marktes 46
- Von der Keuschheit 49
- Vom Freunde 51
- Von tausend und Einem Ziele 53
- Von der Nächstenliebe 55
- Vom Wege des Schaffenden 57
- Von alten und jungen Weiblein 60
- Vom Biss der Natter 63
- Von Kind und Ehe 65
- Vom freien Tode 67
- Von der schenkenden Tugend 70
- Teil 2 - Also sprach Zarathustra 75
- Das Kind mit dem Spiegel 77
- Auf den glückseligen Inseln 80
- Von den Mitleidigen 83
- Von den Priestern 86
- Von den Tugendhaften 89
- Vom Gesindel 92
- Von den Taranteln 95
- Von den berühmten Weisen 98
- Das Nachtlied 101
- Das Tanzlied 103
- Das Grablied 106
- Von der Selbst-Ueberwindung 109
- Von den Erhabenen 112
- Vom Lande der Bildung 115
- Von der unbefleckten Erkenntniss 118
- Von den Gelehrten 121
- Von den Dichtern 123
- Von grossen Ereignissen 126
- Der Wahrsager 130
- Von der Erlösung 134
- Von der Menschen-Klugheit 139
- Die stillste Stunde 142
- Teil 3 - Also sprach Zarathustra 145
- Der Wanderer 147
- Vom Gesicht und Räthsel 150
- Von der Seligkeit wider Willen 155
- Vor Sonnen-Aufgang 158
- Von der verkleinernden Tugend 161
- Auf dem Oelberge 167
- Vom Vorübergehen 170
- Von den Abtrünnigen 173
- Die Heimkehr 178
- Von den drei Bösen 182
- Vom Geist der Schwere 187
- Von alten und neuen Tafeln 191
- Der Genesende 222
- Von der großen Sehnsucht 228
- Das andere Tanzlied 231
- Die sieben Siegel 236
- Teil 4 - Also sprach Zarathustra 243
- Das Honig-Opfer 245
- Der Notschrei 248
- Gespräch mit den Königen 251
- Der Blutegel 256
- Der Zauberer 259
- Außer Dienst 267
- Der häßlichste Mensch 271
- Der freiwillige Bettler 276
- Der Schatten 280
- Mittags 283
- Die Begrüßung 286
- Das Abendmahl 291
- Vom höheren Menschen 293
- Das Lied der Schwermut 313
- Von der Wissenschaft 319
- Unter Töchtern der Wüste 322
- Die Erweckung 330
- Das Eselsfest 334
- Das trunkne Lied 339
- Das Zeichen 352