Page - 277 - in Also sprach Zarathustra
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– seine große Trübsal: die aber heißt heute Ekel. Wer hat heute von Ekel
nicht Herz, Mund und Augen voll? Auch du! Auch du! Aber siehe doch diese
Kühe an!« –
Also sprach der Berg-Prediger und wandte dann seinen eignen Blick
Zarathustra zu – denn bisher hing er mit Liebe an den Kühen –: da aber
verwandelte er sich. »Wer ist das, mit dem ich rede?« rief er erschreckt und
sprang vom Boden empor.
»Dies ist der Mensch ohne Ekel, dies ist Zarathustra selber, der Überwinder
des großen Ekels, dies ist das Auge, dies ist der Mund, dies ist das Herz
Zarathustras selber.«
Und indem er also sprach, küßte er dem, zu welchem er redete, die Hände,
mit überströmenden Augen, und gebärdete sich ganz als einer, dem ein
kostbares Geschenk und Kleinod unversehens vom Himmel fällt. Die Kühe
aber schauten dem allen zu und wunderten sich.
»Sprich nicht von mir, du Wunderlicher! Lieblicher!« sagte Zarathustra und
wehrte seiner Zärtlichkeit, »sprich mir erst von dir! Bist du nicht der
freiwillige Bettler, der einst einen großen Reichtum von sich warf, –
– der sich seines Reichtums schämte und der Reichen, und zu den Ärmsten
floh, daß er ihnen seine Fülle und sein Herz schenke? Aber sie nahmen ihn
nicht an.«
»Aber sie nahmen mich nicht an«, sagte der freiwillige Bettler, »du weißt
es ja. So ging ich endlich zu den Tieren und zu diesen Kühen.«
»Da lerntest du«, unterbrach Zarathustra den Redenden, »wie es schwerer
ist, recht geben als recht nehmen, und daß gut schenken eine Kunst ist und die
letzte listigste Meister-Kunst der Güte.«
»Sonderlich heutzutage«, antwortete der freiwillige Bettler: »heute
nämlich, wo alles Niedrige aufständisch ward und scheu und auf seine Art
hoffärtig: nämlich auf Pöbel-Art.
Denn es kam die Stunde, du weißt es ja, für den großen schlimmen langen
langsamen Pöbel- und Sklaven-Aufstand: der wächst und wächst!
Nun empört die Niedrigen alles Wohltun und kleine Weggeben; und die
Überreichen mögen auf der Hut sein!
Wer heute gleich bauchichten Flaschen tröpfelt aus allzuschmalen Hälsen –
solchen Flaschen bricht man heute gern den Hals.
Lüsterne Gier, gallichter Neid, vergrämte Rachsucht, Pöbel-Stolz: das
sprang mir alles ins Gesicht. Es ist nicht mehr wahr, daß die Armen selig sind.
Das Himmelreich aber ist bei den Kühen.«
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Also sprach Zarathustra
- Title
- Also sprach Zarathustra
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1885
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 354
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Zarathustras Vorrede 2
- Teil 1 - Die Reden Zarathustras 19
- Von den drei Verwandlungen 20
- Von den Lehrstühlen der Tugend 22
- Von den Hinterweltlern 25
- Von den Verächtern des Leibes 28
- Von den Freuden- und Leidenschaften 30
- Vom bleichen Verbrecher 32
- Vom Lesen und Schreiben 34
- Vom Baum am Berge 36
- Von den Predigern des Todes 39
- Vom Krieg und Kriegsvolke 41
- Vom neuen Götzen 43
- Von den Fliegen des Marktes 46
- Von der Keuschheit 49
- Vom Freunde 51
- Von tausend und Einem Ziele 53
- Von der Nächstenliebe 55
- Vom Wege des Schaffenden 57
- Von alten und jungen Weiblein 60
- Vom Biss der Natter 63
- Von Kind und Ehe 65
- Vom freien Tode 67
- Von der schenkenden Tugend 70
- Teil 2 - Also sprach Zarathustra 75
- Das Kind mit dem Spiegel 77
- Auf den glückseligen Inseln 80
- Von den Mitleidigen 83
- Von den Priestern 86
- Von den Tugendhaften 89
- Vom Gesindel 92
- Von den Taranteln 95
- Von den berühmten Weisen 98
- Das Nachtlied 101
- Das Tanzlied 103
- Das Grablied 106
- Von der Selbst-Ueberwindung 109
- Von den Erhabenen 112
- Vom Lande der Bildung 115
- Von der unbefleckten Erkenntniss 118
- Von den Gelehrten 121
- Von den Dichtern 123
- Von grossen Ereignissen 126
- Der Wahrsager 130
- Von der Erlösung 134
- Von der Menschen-Klugheit 139
- Die stillste Stunde 142
- Teil 3 - Also sprach Zarathustra 145
- Der Wanderer 147
- Vom Gesicht und Räthsel 150
- Von der Seligkeit wider Willen 155
- Vor Sonnen-Aufgang 158
- Von der verkleinernden Tugend 161
- Auf dem Oelberge 167
- Vom Vorübergehen 170
- Von den Abtrünnigen 173
- Die Heimkehr 178
- Von den drei Bösen 182
- Vom Geist der Schwere 187
- Von alten und neuen Tafeln 191
- Der Genesende 222
- Von der großen Sehnsucht 228
- Das andere Tanzlied 231
- Die sieben Siegel 236
- Teil 4 - Also sprach Zarathustra 243
- Das Honig-Opfer 245
- Der Notschrei 248
- Gespräch mit den Königen 251
- Der Blutegel 256
- Der Zauberer 259
- Außer Dienst 267
- Der häßlichste Mensch 271
- Der freiwillige Bettler 276
- Der Schatten 280
- Mittags 283
- Die Begrüßung 286
- Das Abendmahl 291
- Vom höheren Menschen 293
- Das Lied der Schwermut 313
- Von der Wissenschaft 319
- Unter Töchtern der Wüste 322
- Die Erweckung 330
- Das Eselsfest 334
- Das trunkne Lied 339
- Das Zeichen 352