Page - 320 - in Also sprach Zarathustra
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mehr Sicherheit, deshalb kam ich zu Zarathustra. Der nämlich ist noch der
festeste Turm und Wille –
– heute, wo alles wackelt, wo alle Erde bebt. Ihr aber, wenn ich eure Augen
sehe, die ihr macht, fast dünkt mich’s, ihr sucht mehr Unsicherheit,
– mehr Schauder, mehr Gefahr, mehr Erdbeben. Euch gelüstet, fast dünkt
mich’s so, vergebt meinem Dünkel, ihr höheren Menschen –
– euch gelüstet nach dem schlimmsten gefährlichsten Leben, das mir am
meisten Furcht macht, nach dem Leben wilder Tiere, nach Wäldern, Höhlen,
steilen Bergen und Irr-SchlĂĽnden.
Und nicht die FĂĽhrer aus der Gefahr gefallen euch am besten, sondern die
euch von allen Wegen abfĂĽhren, die VerfĂĽhrer. Aber, wenn solch GelĂĽsten an
euch wirklich ist, so dünkt es mich trotzdem unmöglich.
Furcht nämlich – das ist des Menschen Erb- und Grundgefühl; aus der
Furcht erklärt sich jegliches, Erbsünde und Erbtugend. Aus der Furcht wuchs
auch meine Tugend, die heiĂźt: Wissenschaft.
Die Furcht nämlich vor wildem Getier – die wurde dem Menschen am
längsten angezüchtet, einschließlich das Tier, das er in sich selber birgt und
fürchtet – Zarathustra heißt es ›das innere Vieh‹.
Solche lange alte Furcht, endlich fein geworden, geistlich, geistig – heute,
dünkt mich, heißt sie: Wissenschaft.« –
Also sprach der Gewissenhafte; aber Zarathustra, der eben in seine Höhle
zurückkam und die letzte Rede gehört und erraten hatte, warf dem
Gewissenhaften eine Handvoll Rosen zu und lachte ob seiner »Wahrheiten«.
»Wie!« rief er, »was hörte ich da eben? Wahrlich, mich dünkt, du bist ein Narr
oder ich selber bin’s: und deine ›Wahrheit‹ stelle ich rucks und flugs auf den
Kopf.
Furcht nämlich – ist unsre Ausnahme. Mut aber und Abenteuer und Lust
am Ungewissen, am Ungewagten – Mut dünkt mich des Menschen ganze
Vorgeschichte.
Den wildesten mutigsten Tieren hat er alle ihre Tugenden abgeneidet und
abgeraubt: so erst wurde er – zum Menschen.
Dieser Mut, endlich fein geworden, geistlich, geistig, dieser Menschen-Mut
mit Adler-Flügeln und Schlangen-Klugheit: der, dünkt mich, heißt heute –«
»Zarathustra!« schrien alle, die beisammen saßen, wie aus einem Munde
und machten dazu ein großes Gelächter; es hob sich aber von ihnen wie eine
schwere Wolke. Auch der Zauberer lachte und sprach mit Klugheit: »Wohlan!
Er ist davon, mein böser Geist!
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Also sprach Zarathustra
- Title
- Also sprach Zarathustra
- Author
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Date
- 1885
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.0 cm
- Pages
- 354
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Zarathustras Vorrede 2
- Teil 1 - Die Reden Zarathustras 19
- Von den drei Verwandlungen 20
- Von den LehrstĂĽhlen der Tugend 22
- Von den Hinterweltlern 25
- Von den Verächtern des Leibes 28
- Von den Freuden- und Leidenschaften 30
- Vom bleichen Verbrecher 32
- Vom Lesen und Schreiben 34
- Vom Baum am Berge 36
- Von den Predigern des Todes 39
- Vom Krieg und Kriegsvolke 41
- Vom neuen Götzen 43
- Von den Fliegen des Marktes 46
- Von der Keuschheit 49
- Vom Freunde 51
- Von tausend und Einem Ziele 53
- Von der Nächstenliebe 55
- Vom Wege des Schaffenden 57
- Von alten und jungen Weiblein 60
- Vom Biss der Natter 63
- Von Kind und Ehe 65
- Vom freien Tode 67
- Von der schenkenden Tugend 70
- Teil 2 - Also sprach Zarathustra 75
- Das Kind mit dem Spiegel 77
- Auf den glĂĽckseligen Inseln 80
- Von den Mitleidigen 83
- Von den Priestern 86
- Von den Tugendhaften 89
- Vom Gesindel 92
- Von den Taranteln 95
- Von den berĂĽhmten Weisen 98
- Das Nachtlied 101
- Das Tanzlied 103
- Das Grablied 106
- Von der Selbst-Ueberwindung 109
- Von den Erhabenen 112
- Vom Lande der Bildung 115
- Von der unbefleckten Erkenntniss 118
- Von den Gelehrten 121
- Von den Dichtern 123
- Von grossen Ereignissen 126
- Der Wahrsager 130
- Von der Erlösung 134
- Von der Menschen-Klugheit 139
- Die stillste Stunde 142
- Teil 3 - Also sprach Zarathustra 145
- Der Wanderer 147
- Vom Gesicht und Räthsel 150
- Von der Seligkeit wider Willen 155
- Vor Sonnen-Aufgang 158
- Von der verkleinernden Tugend 161
- Auf dem Oelberge 167
- Vom VorĂĽbergehen 170
- Von den AbtrĂĽnnigen 173
- Die Heimkehr 178
- Von den drei Bösen 182
- Vom Geist der Schwere 187
- Von alten und neuen Tafeln 191
- Der Genesende 222
- Von der groĂźen Sehnsucht 228
- Das andere Tanzlied 231
- Die sieben Siegel 236
- Teil 4 - Also sprach Zarathustra 243
- Das Honig-Opfer 245
- Der Notschrei 248
- Gespräch mit den Königen 251
- Der Blutegel 256
- Der Zauberer 259
- AuĂźer Dienst 267
- Der häßlichste Mensch 271
- Der freiwillige Bettler 276
- Der Schatten 280
- Mittags 283
- Die BegrĂĽĂźung 286
- Das Abendmahl 291
- Vom höheren Menschen 293
- Das Lied der Schwermut 313
- Von der Wissenschaft 319
- Unter Töchtern der Wüste 322
- Die Erweckung 330
- Das Eselsfest 334
- Das trunkne Lied 339
- Das Zeichen 352