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Kapitel
Seitdem Arnold im Finanzamt war, besuchte er das Kaffeehaus eher aus
Leidenschaft als aus Gewohnheit. Es gehörte zu seinen Erfüllungen und nicht
mehr zu seinen Bedürfnissen. War er schon früher – und besonders, seitdem
er aus dem Krieg zurückgekommen war – nicht fähig gewesen, einen Abend
allein zu sein, so erfaßte ihn jetzt ein wahres Entsetzen vor der Einsamkeit.
Nicht, daß er etwa die Sehnsucht gehabt hätte, in einer Gesellschaft zu leben.
Er wollte nur im Kaffeehaus sitzen, nichts anderes als im Kaffeehaus sitzen.
Er hatte ein paar Bekannte, vielleicht ein paar Freunde. Es waren
Schriftsteller, Maler, Musiker, Bildhauer. Ich kannte keinen genaueren Leser,
kein gewissenhafteres Publikum, keinen eifrigeren Theaterbesucher, keinen
frömmeren Hörer von Musik als Arnold. Für alle Künste interessierte er sich.
Jenen, die sie ausübten, nahe zu sein gehörte zu seinen bescheidenen Freuden.
Sicherlich beneidete er sie. Denn sie allein, so schien es ihm, hatten einen
Sinn in ihrem Leben gefunden und besaßen ein Recht, dazusein, Geltung zu
haben, Ansehen und Macht. Was sie sprachen, schien ihm so wichtig, daß er
ihnen nur zuhörte, ohne sich an ihrem Gespräch zu beteiligen. Vielleicht fand
er einen Trost darin, daß er ihre Abende teilte, obwohl seine Tage so ganz
anders aussahen als die ihrigen. Vielleicht aber auch war er klüger, als ich
glaubte, und er tröstete sich, wenn er die Künstler sah, damit, daß auch sie
schließlich nicht von anderen Sorgen sprachen als alle Welt. Auch sie hatten
kein Geld. Auch sie konnten keine Reisen machen. Auch sie spielten Tarock
und Sechsundsechzig und Domino. Auch sie tranken Kaffee und tauchten ihre
Kipfel ein.
Arnold spielte nicht, aber er sah gerne zu. Er war mit der Zeit manchen
Spielern ein unentbehrlicher Kiebitz geworden. Man erholte sich
einigermaßen von den Aufregungen des Spiels, wenn man von den Karten
aufblickte und Zipper ansah. Die ständige Schwermut seines Angesichts –
deren Grund übrigens niemand wußte und wahrscheinlich nur ich allein
verstand, weil ich das Haus Zipper kannte, also die Heimat dieser Schwermut
–, seine unveränderliche Leidenschaft, den Wechsel von Pech und Glück
mitzuerleben, seine aufmerksame Schweigsamkeit, sein genauer Blick, der
den Bewegungen und den Händen und den Karten immer folgte, mußte die
Spieler ebenso beruhigen und zufriedenstellen wie einen Autor, der sein Werk
vorliest, ein gespannter und mitgenommener Zuhörer. Es schmeichelte den
Spielern, wenn Zipper ihnen zusah. Es war, als spendete er ihnen stillen
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110