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17
Kapitel
Es war um jene Zeit, da kam der alte Herr Zipper nach Berlin. Ein ProzeĂź,
den er schon seit vielen Jahren auszutragen hatte und von dem er manchmal
zu erzählen liebte, mit einem gewissen Stolz, als handelte es sich um ein
groĂźes Verdienst, dessen Belohnung der Ausgang des Prozesses bringen
würde – indessen er höchstens die Verurteilung Zippers ergeben konnte –,
dieser ProzeĂź sollte endlich stattfinden. Und obwohl es der rechtlichen Lage
nach, wie die Juristen sagten, natürlich gewesen wäre, den Prozeß in der Stadt
spielen zu lassen, in der Zipper wohnte, hatte dieser es durch allerhand
Künste und Kniffe, die ihm niemals gelungen wären, wenn er sie nicht zu
seinem Schaden angewendet hätte, nach langen Jahren verstanden, die
Verhandlung bei einem Berliner Gericht anberaumen zu lassen, weil Zipper
sich einbildete, daß die »Sache schneller klappte« als in Österreich, wo »die
Richter ihre Nägel kauten«. Der alte Zipper, der schon längst nach Berlin
hatte kommen wollen, hatte jetzt einen Vorwand, der ihn vor seiner eigenen
Frau sogar hätte rechtfertigen können, wenn sie es nicht schon längst müde
gewesen wäre, von ihrem Mann Rechenschaft zu fordern. »Dieser Prozeß
kostet mir schon ein schweres Vermögen«, liebte der alte Zipper zu sagen.
Aber welcher Prozeß hätte schon kein Vermögen gekostet? Und wenn ich ihn
fragte: »Haben Sie denn Aussichten, zu gewinnen?«, so lächelte Zipper ein
wissendes und müdes Lächeln, wie einer, der die Geheimnisse der Schöpfung
ergründet hat, lächeln mag, wenn man ihn fragt, ob der liebe Gott wirklich
einen langen Bart habe. Zippers Augen begaben sich für eine längere Weile in
unbekannte, vielleicht unirdische Regionen, aus denen sie dann leuchtend und
erleuchtet auf den Fragenden zurĂĽckblickten. Und wie aus einer Welt, die der
andere niemals erreichen würde, kam die Antwort Zippers: »Ob ich den
Prozeß gewinnen werde? Mein lieber Freund, Prozesse hängen nicht von den
Gesetzen ab, sondern vom Schicksal. Es ist meine feste Ăśberzeugung, daĂź
man die dicken BĂĽcher umsonst geschrieben hat und umsonst studiert. Der
Richter hat keine Ahnung, der Kläger nicht und der Anwalt auch nicht. Nur
der Angeklagte ist ein wenig orientiert, und in diesem Fall bin ich der
Angeklagte« – und Zipper legte seine rechte Hand mit gespreizten Fingern
auf die breite Krawatte, die den ganzen Ausschnitt seiner Weste verdeckte.
»Ja, sehen Sie mich nur an! Ich bin der Angeklagte!« fuhr Zipper fort. »Und
so wahr ich es bin, wird man mich auch verurteilen. Meine Anwälte meinen
zwar, es gäbe Auswege. Aber ich bin für Auswege nicht zu haben. Zwar
glaube ich nicht an Gerechtigkeit, aber ich glaube an das Schicksal. Es möge
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Ă–sterreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110