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Kapitel
Ich fühlte niemals den Wunsch, Erna, die immer noch und gleichsam
provisorisch am Theater spielte, auf der Bühne zu sehn. Ich könnte eher
sagen, daß ich das Bedürfnis hatte, sie nicht in den Rollen zu beobachten, die
ihr der Beruf zuteilte, sondern in den anderen, die sie sich selbst ausgesucht
hatte und die sie am Tag besser spielte als die offiziellen am Abend und auf
der Bühne. Zu einer natürlichen Geringschätzung des Theaters, von der ich
glaube, daß sie mir angeboren ist, gesellte sich im Fall Erna die Furcht, ich
könnte die Klarheit verlieren, mit der ich sie sah und durchschaute, die
Furcht, daß ich, durch das Spiel der beruflichen Komödiantin verwirrt, dem
der privaten verfallen müßte. Dieser Vorgang ist nicht selten. Er scheint mir,
daß die Schauspieler und besonders die Schauspielerinnen sich einer
moralischen Beurteilung entziehen, indem sie sich einer künstlerischen
aussetzen, und daß sie, sooft ihnen jemand verfällt, in Liebe, Ergebenheit und
Verehrung, sie ihre Eroberung nicht mit den ehrlichen, sozusagen primären
Mitteln der Frau gemacht haben, sondern sie der Milde zu verdanken haben,
mit der man zum Beispiel ihrer billigen Koketterie begegnet, in Anbetracht
ihrer beruflichen Notwendigkeit, in manchen Augenblicken billig zu werden,
um wirksam zu sein. Deshalb verzeihen wir eine Geschmacklosigkeit einer
Frau von der Bühne eher als einer andern. Mancher Schauspielerin sehen wir,
sogar wenn wir Moralisten sind, eine moralische Unzulänglichkeit nach. Und
all das nicht etwa aus »Achtung vor der Kunst«, sondern aus einem
unbewußten Respekt vor der Anstrengung, die es erfordern muß, sowohl der
Menge zu gefallen als auch einen einzelnen nicht abzustoßen. Gegen Erna
war ich voreingenommen. Aber weil ich wußte, daß jede Art von Urteilen,
also auch Vorurteile mehr oder weniger gerecht sein können, und weil ich an
die Gerechtigkeit meines Vorurteils glaubte, hielt ich es, trotz meiner Neugier
und meiner Teilnahme an allem, was meinen Freund Arnold betraf, nicht
mehr für nötig, mir über die Bühnenkünstlerin Erna ein Urteil zu bilden, das
vielleicht günstiger ausgefallen wäre. Dennoch konnte ich eines Tages der
Forderung Arnolds nicht widerstehen. Ich ging mit ihm ins Theater. Ich sah
Erna in einer Rolle, in der sie dem Publikum gefiel. Es war ein gleichgültiges
Stück, dessen Namen und Autor, ja, dessen Inhalt ich vergessen habe. Erna
spielte die sogenannte unverstandene Frau eines braven philiströsen Mannes.
Mich reizte schon der schamlose Vorwurf dieses Stückes. Denn abgesehen
von der Billigkeit der Schablonen: unverstandene Frau und philiströser Mann,
die meinen Geschmack langweilten, war mir der Eindruck, den die
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Zipper und sein Vater
- Title
- Zipper und sein Vater
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1928
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 112
- Keywords
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110