Seite - 622 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Band 1
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gefällig in den Spiegel, um den ermutigenden Gedanken,
daß sie, wenn sie nur sich selbst gefallen, notwendig auch
andern gefallen müssen, stets lebhaft sich zu vergegen-
wärtigen, nehmen einen Ton an, den sie für das unfehlbare
Mittel halten, um1 ihren Zweck zu erreichen, und be-
streben sich, diesem affektierten Tone soviel als möglich
den Stempel der Wahrheit aufzudrücken, um dem Publi-
kum weiszumachen, daß sie auch wirklich so denken, wie
sie schreiben, wirklich so sind, wie sie als Schriftsteller vor
ihm erscheinen. Wie in der schönen Zeit des Mittelalters
so manchen Ritter beim Turnier nur die Vorstellung, daß
er unter den Augen seiner Schönen kämpfe, zum Ritter
schlug, so ist bei vielen Schriftstellern nur die Vorstellung
des Publikums, die Vorstellung, von der Dame bemerkt zu
werden, um deren Gunst er buhlt, die heilige, inspirierende
Schutzpatronin seiner Muse. Diese Vorstellung enhusias-
miert ihn und flößt ihm die Kraft ein, sich selbst zu be-
herrschen und soviel als möglich zusammenzunehmen.
Von dieser Klasse Skribenten gilt, was Montesquieu in
seinen „Pensees diverses" sagt: „Les auteurs sont des
personnages de theätre [die Autoren gehören zu den
Theaterfiguren]." Diejenigen, die keinen solchen feinen
Wahrnehmungssinn, kein solches infallibles Wahrheits-
gefühl haben, daß sie es dem Schriftsteller schon an der
Nase ansehen können, ob in dem Charakter seiner Schriften
Schein oder Wesen liegt, tun daher ganz wohl daran, wenn
sie dergleichen Schriftsteller persönlich kennenzulernen su-
chen ; denn nur auf diesem Wege können sie darüber zur
Gewißheit kommen, ob nicht in der Löwenhaut ein Esel,
in dem Schafspelz ein Wolf versteckt ist. Aber das gilt
nicht von den echten Schriftstellern. Diese verbinden mit
ihren Schriften ebensowenig einen besondern außer ihnen
hegenden Zweck als Gott mit der Schöpfung der Welt;
ihre Werke sind Produkte der rücksichtslosen Wahrheit
und Notwendigkeit selber, sie entspringen aus einer andern
Quelle als aus dem Wohlgefallen, das alles Gute und Vor-
treffliche an seiner Selbstbeschauung und Offenbarung
hat.
1 Fehlt in C.
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Band 1
(Gemeinfreie Teile)
- Titel
- Ludwig Feuerbach
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Band
- 1
- Herausgeber
- Werner Schuffenhauer
- Verlag
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Datum
- 1981
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 11.6 x 17.8 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Geisteswissenschaften