Seite - 5 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Einleitung
Was nicht im Baedeker steht
dische Subkultur mit ihren eigenen Werten und ihrer eigenen Weltanschauung. Das
Ideal dieser neuen jüdischen Lebenswelt war Bildung, ihre Idealfigur der Gebildete.
Dieses Ideal hatte zwar eine deutsche äußere Form, war jedoch jüdischen Inhaltes und
besaß jüdische Voraussetzungen. Und in der Vereinigung von sittlicher und wissen-
schaftlicher Bildung konnte sich der Gebildete als direkter Erbe des talmid hakham
behaupten.
Die integrations- und emanzipationsorientierten Juden, die von den böhmischen
Ländern, von Ungarn und – wenn auch anfänglich nicht so stark – aus Galizien nach
Wien gekommen waren, trugen oft bereits dieses „aufklärerische“, deutschliberale
Bildungsideal der Emanzipationsideologie mit sich.9 Aber diese idealistisch-liberale
Kultur passte nicht ganz zu jener der habsburgischen Haupt- und Residenzstadt, in
der sich die althergebrachte Kultur des konservativen, katholischen, gegenreforma-
torischen Barocks sowohl am Hof als auch in der „phäakischen“ Volkskultur der Be-
völkerung noch gegen den Rationalismus des Josephinismus behaupten konnte. Der
resultierende culture-clash im Wien des späten neunzehnten Jahrhunderts hatte län-
gerfristig folgenschwere Konsequenzen.
Erstens hatten die jüdischen Einwanderer mit ihrer alt-neuen Betonung auf Bil-
dung rasch eine starke Präsenz in der Bildungswelt Wiens, in den Schulen, besonders
den Elite-Gymnasien, sowie in den literarischen Salons und Kaffeehäusern erworben.
Weiters erwarben Juden auch eine besondere Stelle in den sozioökonomischen und
kulturellen Strukturen Wiens, weil sie meistens in „kapitalistischen“ Wirtschaftsbran-
chen wie Finanz, Kommerz und den freien Berufen arbeiteten – jenen modernen
Äquivalenten wirtschaftlicher Funktionen, die Juden in vormoderner Zeit erlaubt
waren. Sie wurden ein großer Teil, eigentlich der Kern des „liberalen Bildungsbürger-
tums“ von Wien 1900. 0
Zweitens, zum Teil als Reaktion, wurde Wien vor dem Zweiten Weltkrieg zur Haupt-
stadt des Antisemitismus. Hierbei ist anzumerken, dass eine gewählte antisemitische
Stadtregierung wie die eines Dollfuß und Schuschnigg nicht bedeutete, dass die Mehr-
heit der Wiener Bevölkerung antisemitisch oder antisemitisch zu wählen bereit war.
Nur ein schmaler Sektor der Bevölkerung besaß damals das Wahlrecht. Wahr aber ist,
dass die Christlichsozialen, die Wiens Stadtregierung stellten, explizit antisemitisch
waren und ihren Erfolg auf dem Antisemitismus aufbauten. Es gab genügend Leute im
Wiener ‚illiberalen‘ Bürgertum, die nur zu gern bereit waren, Antisemiten zu wählen.
Die Gründe für diesen Erfolg des politischen Antisemitismus in Wien sind vielfältig,
Ivar Oxaal, „Die Juden im Wien des jungen Hitler : Historische und soziologische Aspekte“, in : Botz u.
a. (Hg.), Eine zerstörte Kultur, S. 47–64.
0 Beller, Wien und die Juden, S. 42–81.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519