Seite - 9 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Einleitung
Was nicht im Baedeker steht
Das zweite Beispiel ist zwar nicht eindeutig jüdisch gezeichnet, aber auch zutiefst
von der jüdischen Erfahrung in Wien geprägt. Bruder Leichtsinn wurde zu Neujahr
1917/18 uraufgeführt. Der Komponist war Leo Ascher, und die Librettisten waren
Julius Brammer und Alfred Grünwald, die schon einen Schlager mit Leo Falls Rose
von Stamboul geschrieben hatten. Bruder Leichtsinn ist eine ideologische Verteidigung
der Frivolität und Leichtsinnigkeit der Wiener Operette. Diese Operette behauptet,
dass es manchmal eine sehr gute Idee sei, leichtsinnig zu sein, indem man die „Ver-
nünftigen“ Regeln und Konventionen der Gesellschaft nicht beachtet. Die Haupt-
figur ist eine belgische Heldin, Musotte, die sich in einen anonymen Briefschreiber
verliebt. Hinter dem Briefschreiber verbirgt sich Jimmy Wells, ein Amerikaner, aber
ein halbschwarzer Amerikaner. Der Vater der Musotte, Baron Dunoir, ist empört über
die Möglichkeit dieser „Rassenmischung“, aber Bruder Leichtsinn, Geist des Silves-
ters, ist ganz für diese Liebesheirat :
„Ein bisschen noir, ein bisschen blanche,
Das ist die richtige Melange.“ 9
Auch aus dem Regiebuch geht klar hervor, dass Jimmy doch den besten Charakter hat
und eine ausgezeichnete Partie für Musotte ist : „Er ist ein tadellos eleganter junger
Mann – aber von schokoladenbrauner Gesichtsfarbe. Er ist Amerikaner, der Sohn
einer Mischehe – spricht gebrochenen Akzent, zeigt gerne seine blendend weißen
Zähne ; hat absolut nichts ,niggerartiges‘ an sich, sondern ist ein durchaus intelli-
genter, überaus liebenswürdiger Gentleman, Europäern gegenüber immer voll leiser
Ironie – kurz ein Mann, der seinen Wert kennt. Bewegt sich als vollendeter Welt-
mann.“ 0 Am Ende der Operette sagt Bruder Leichtsinn zu Dunoir :
„Jimmy wird sie hüten wie ein Juwel – er ist eine Perle.
Dunoir erwidert : ‚Muss es denn gerade eine schwarze Perle sein ?‘
Worauf Leichtsinn sagt : ‚Das sind die teuersten !‘“
Der „Leichtsinn der Rassenmischung“ wird hier gepriesen als die Wahl zweier Men-
schen, die sich lieben. Obwohl die Operette von einer Belgierin und einem halb-
schwarzen Amerikaner handelt, wird im Wiener Kontext hier auf andere „Rassenmi-
Leo Ascher (Text : Julius Brammer und Alfred Grünwald), Bruder Leichtsinn : Soufflier- und Regiebuch,
Wien 1918.
Ebd., S. 57.
0 Ebd., S. 55.
Ebd., S. 73.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519