Seite - 22 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Frank Stern · Barbara Eichinger
Eleonore Lappin
spektiert. Für ihn wurde rituell gekocht, ihm hatten meine Schwester und ich täglich
in der Früh das Sch’ema Jisroel aufzusagen, wofür wir dann jede ein Kokosbusserl er-
hielten, das wir heimlich im Garten verschwinden ließen. Nie durfte er erfahren, dass
für uns Kinder Weihnachten gefeiert wurde, aber ich habe als Kind – meine einzige
Erinnerung an jüdische Gebräuche – noch bei ihm den ganz richtigen Sederabend
mitgemacht, dessen ehrwürdig patriarchalischer Charakter mit seinen Lichtern, Ge-
beten, Speisefolgen, unter dem Präsidium des greisen Großvaters mir recht großen
Eindruck machte. […] Dass meine älteren und sichtlich abgebrühten Cousins wäh-
rend der Zeremonien Manderln in ihre Hagadahs zeichneten und das Ganze sichtlich
als humoristisch-antiquierte Angelegenheit betrachteten, habe ich eigentlich nicht in
Ordnung gefunden.“ 9
Ein wiederkehrendes Motiv für antiquierte, inzwischen glücklich überholte jüdi-
sche Bräuche sind die arrangierten Ehen der Eltern und/oder anderer naher Verwand-
ter. Käthe Leichter (geb. 1895) führte den wirtschaftlichen Erfolg ihrer Familie väter-
licherseits nicht zuletzt auf eine kluge Heiratspolitik zurück, der auch ihr Vater bei
der Wahl seiner Frau folgte. George Clare (geb. 1925) zeigt am Beispiel seiner Eltern,
dass auch eine Generation später Eheanbahnungen in modernisierter Form in Wien
durchaus üblich waren : „In den alten Zeiten, fern in der Bukowina, war es kein Prob-
lem gewesen, eine Frau zu finden. Aber in Wien wurden die Dienste des Schadchen,
des jüdischen Heiratsvermittlers, nicht in Anspruch genommen. Man verschmähte
die Jentes, die Ehestifterin aus ,Anatevka‘. Aber es gab – um bei den Musicals zu
bleiben – Ehestifter wie die Dolly in ,Hello Dolly‘. Und so eine Dolly war es, die die
Klaars mit den Schapiras zusammenbrachte.“ 0
Diese „Dollys“ waren häufig weibliche Verwandte, bei denen sich die zukünfti-
gen Ehepartner „zufällig“ treffen konnten, doch wurde darüber in der Regel nicht
viel gesprochen ; die Kinder waren auf Vermutungen angewiesen. So auch Joseph
Simon, der die Möglichkeit einer arrangierten Ehe seiner Eltern als äußerst plausibel
erscheinen lässt, denn : „Bis zur Begegnung mit meinem Vater hatte meine Mutter
Anna Gersuny mit keinem jungen Mann, ausgenommen ihrer beiden Brüder, gespro-
chen.“ Wie die meisten seiner AltersgenossInnen steht Simon solchen antiquierten
Geschlechterrollen mit staunender Distanz gegenüber. Rita Childs (geb. 1921) be-
Käthe Leichter, „Lebenserinnerungen“, in : Herbert Steiner (Hg.), Käthe Leichter, Leben und Werk, Wien
1973, S. 235–385, S. 239f.
0 George Clare, Letzter Walzer in Wien. Spuren einer Familie, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1984,
S. 82 f.
Hansi Kirsch-Schmidl, geb. 1898, Injoest, Kt. 17, Sig. 64 ; Arieh L. Karnon, geb. Leo Kupferschmied,
1920, Injoest, Kt. 66, Sig. 263.
Simon, Augenzeuge, S. 17.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519