Seite - 23 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Einleitung
Jüdische Lebenserinnerungen
tont die Liebesheirat ihrer Eltern, doch seien die Ehen der Schwestern ihres Vaters
arrangiert worden. Überhaupt werden die elterlichen Ehen meist als patriarchalisch
beschrieben und die Erziehungsmethoden oft als zu restriktiv und konservativ kriti-
siert.
Erstaunlich unaufgeregt kommentieren die meisten ZeitzeugInnen „Mischehen“
in der eigenen Familie. Tatsächlich stieg deren Anteil bei Eheschließungen von Ju-
den und Jüdinnen von 10,8 Prozent in den Jahren 1881–1884 auf 31,4 Prozent im
Jahr 1919. Prüfstein für Erfolg oder Misserfolg einer solchen Verbindung ist das
Verhalten des nichtjüdischen Ehepartners in der ns-Zeit. Getaufte Kinder aus inter-
konfessionellen Ehen – auch solche finden sich unter den untersuchten AutorInnen
– entwickeln unter dem Druck von Antisemitismus und ns-Verfolgung häufig ein
bleibendes Naheverhältnis zur jüdischen Schicksalsgemeinschaft, das aber so gut wie
nie zu einem Übertritt zum Judentum führt. Lisa de Curtis (geb. 1921) wuchs in Wien
als Katholikin auf, fühlte sich jedoch, wie sie schreibt, seit ihrem 14. Lebensjahr, als
sie ein antisemitischer Lehrer aus dem katholischen Religionsunterricht ausschloss,
als Jüdin. Nach der Erfahrung von Flucht und kZ-Internierung sowie dem Verlust
zahlreicher Angehöriger bekennt sie sich zur jüdischen Schicksalsgemeinschaft und
Nation. Dennoch trat sie nach ihrer Emigration in die usa der Presbyterianischen
Kirche bei, um sich besser zu integrieren. Das zweimalige Scheitern ihrer Ehen führt
sie jedoch auf „kulturelle Unterschiede“ zwischen ihr und ihren nichtjüdischen Part-
nern zurück. Christine Croy (geb. 1923), die ebenfalls einen jüdischen Vater hatte,
wurde protestantisch erzogen. Ihre Familie hielt die jüdischen und die protestanti-
schen Feiertage, weshalb sie ein starkes Zugehörigkeitsgefühl auch zum Judentum
hatte. Ihr Vater beging kurz nach dem „Anschluss“ Selbstmord. Sie selbst durfte trotz
ihrer Abstammung in Berlin eine Ausbildung in Metallografie absolvieren. Ab 1943
arbeitete sie in Wien, wo sie ausschließlich unter „Mischlingen“ verkehrte. Nach dem
Krieg heiratete sie einen „Mischling“, der 1939 in die usa emigriert und als gi nach
Österreich zurückgekommen war, und folgte ihm nach Manitowoc, Wisconsin.
Schriftliche Kindheits- und Jugenderinnerungen von Überlebenden der Shoah
dienen nicht zuletzt der Trauerarbeit. Sie sollen die Erinnerung an die vernichteten
Familienangehörigen bewahren, aber auch an die Welt, in der diese Menschen lebten
und die von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Phillip Fehl (geb. 1920) beschloss
seine Erinnerungen niederzuschreiben, nachdem er mit seiner Frau und seinen bei-
Rita Childs, geb. Erika Schächter, 192, Injoest, Kt. 4, Sig. 16/1, 16/2.
Leo Goldhammer, Die Juden Wiens. Eine statistische Studie, Wien 1927, S. 18.
Lisa de Curtis, geb. Heilig, Injoest, Kt. 5, Sig. 21/1, 21/2.
Christine Croy, geb. Baron, Injoest, Kt. 4, Sig. 18.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519