Seite - 43 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Antisemitismus 1900–1938
hieß dies, einen nahezu mononationalen Reststaat der Deutsch-Österreicher zu kre-
ieren. Die politische Energie, die Deutschnationale zuvor gegen andere Völker der
Habsburgermonarchie im Streit um hegemoniale Rechte aufbrachten, fand nun kei-
nen Konterpart mehr. Mit den ehemaligen tschechischen Kontrahenten – nun Tsche-
choslowakische Republik – wurde ein bilaterales Abkommen geschlossen, handelte es
sich doch um die wichtigsten Handelspartner Österreichs. Der Brünner Vertrag von
1921 regelte beispielsweise das zuvor von christlichsozialer Seite heftig bekämpfte
tschechische Schulwesen in Wien. Die nationalistische Energie musste sich umorien-
tieren, weswegen es kein Zufall ist, dass in den ersten Krisenjahren der Ersten Repub-
lik der Antisemitismus eine neue Hochkonjunktur erlebte und damit die Gründungs-
phase des neuen Staates prägte.
Ein Österreich-Spezifikum des Antisemitismus war es, dass er lange Zeit eine
Klammer zwischen Deutschnationalen und Konservativen bildete – immerhin hatte
Lueger seine Anfangserfolge beiden Wählerschichten verdankt. Das hatte zur Folge
gehabt, dass das konservative Lager eine verbale Radikalität zuließ, die nur von ras-
sistisch deutschnationaler Seite zu erwarten gewesen wäre. Die überparteiliche Klam-
merfunktion des Einschwörens auf das gemeinsame jüdische Feindbild funktionierte
auch noch zu Beginn der Ersten Republik, als mit dem Antisemitenbund unter der
Führung des christlichsozialen Abgeordneten Dr. Anton Jerzabek eine antisemitische
Dachorganisation bestand. Diese Allianz musste mit dem Erstarken deutschnationa-
ler Parteien zerfallen, da der Antisemitismus zu einem Konkurrenzfaktor im Wettlauf
um Wählerstimmen wurde. 1925 scherten die Nationalsozialisten aus dem Antisemi-
tenbund aus, und die unterschiedlichen Formen des Antisemitismus gewannen an
Profil.
Es gab allerdings für die jüdische Bevölkerung Wiens auch Grund zur Hoffnung
auf Besserung : Mit dem Wegfall des ungerechten Kurienwahlrechts kippte in der
Wiener Kommune die dadurch abgesicherte Hegemonie der antisemitischen Christ-
lichsozialen, denn nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer und
Frauen dominierte die Sozialdemokratische Partei mit satten, sprich: absoluten Mehr-
heiten. Das „Antisemitische Wien“ wurde von 1918 bis 1934 zum „Roten Wien“.
Den Antisemiten galt die Sozialdemokratie ohnedies als „Verjudet“, somit gehörte
für sie „Rot“ und „Jüdisch“ zu einem gemeinsamen Aversionskomplex. Damit erhielt
Wien, das mehr als zwei Jahrzehnte eine antisemitische Hochburg gewesen war, eine
völlig andere, nämlich judenfreundliche, Konnotation. Hinzu kam, dass mehr als
neunzig Prozent der in Österreich lebenden Juden und Jüdinnen in Wien wohnten,
was die Hauptstadt aus Sicht der Provinz zusätzlich zum „Jüdischen Wien“ machte.
Karl M. Brousek, Wien und seine Tschechen, Wien 1980.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519