Seite - 45 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Antisemitismus 1900–1938
universitären Boden verwehrt, es kam zur vorübergehenden Schließung der Wiener
Universitäten.
1923 gilt als der Höhepunkt des Nachkriegsantisemitismus, doch das Durchdrin-
gen der Judenfeindschaft setzte sich – wie das Beispiel von 1931 zeigte – kontinuier-
lich fort. Am beunruhigendsten für die jüdische Bevölkerung war die mit der anti-
semitischen Welle einhergehende Etablierung des kriminellen Antisemitismus, sprich
körperlichen Attacken auf Menschen. Es gab in der Habsburgermonarchie besonders
in Böhmen, Mähren und Galizien bereits antijüdische Ausschreitungen, die sogar
zu Todesopfern und Ausnahmezustand geführt hatten. Doch seit der Emanzipation
war für das Gebiet der Ersten österreichischen Republik der kriminelle Antisemitis-
mus in diesem Ausmaß ein neues Phänomen. Die Ermordung des Schriftstellers
Hugo Bettauer durch den Nationalsozialisten Otto Rothstock im März 1925 und die
Ermordung des jüdischen Juweliers Norbert Futterweit im Juni 1933 zeigten, dass
die vom rassistischen Antisemitismus Geprägten selbst bei der Gewaltausübung die
lebensgefährdende Grenze überschritten. Hintergrund war die allgemeine Brutali-
sierung politischer Auseinandersetzungen mit zahlreichen Toten. Nicht zu Unrecht
befand sich die jüdische Bevölkerung in Alarmstimmung.
Die nächste und gravierendste Wende setzte Anfang der 1930er-Jahre ein, sie ging
mit dem Aufstieg und der Machtübernahme der nsDaP in Deutschland einher. In
Österreich wurde die nsDaP zwar 1933 verboten, aber die Verbote betrafen auch die
Kommunistische Partei oder den Republikanischen Schutzbund, den militärischen
Zweig der Sozialdemokratie. Mit dem Bürgerkrieg 1934 und der Machtübernahme
durch die Christlichsozialen entstand ein autoritäres System, das in seiner Wider-
sprüchlichkeit zwar einerseits die Parteitradition des Antisemitismus repräsentierte,
sich allerdings vom Konkurrenzmodell des rassistischen Antisemitismus der nsDaP
abzugrenzen versuchte. Trotz der antisemitischen christlichsozialen Programmatik in-
tegrierte das autoritäre Regime mit der Ernennung des Präsidenten der Israelitischen
Kultusgemeinde Wien, Dr. Desider Friedmann, zum Mitglied des Staatsrats sogar
Vertreter der Jüdischen Gemeinden ins ständestaatliche Regierungskonzept. Dasselbe
galt auch für die Vaterländische Front, die sich jüdischen Mitgliedern gegenüber öff-
nete. In einer Äußerung des Generalsekretärs der Vaterländischen Front vom 29. Jän-
Ebd., S. 171ff.
Zur Begrifflichkeit vgl. Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Wei-
marer Republik, Bonn 1999.
Murray G. Hall, Der Fall Bettauer, Wien 1978.
Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich
1918 bis 1938, 2. Aufl., Wien 1983.
Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. S. 112.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519