Seite - 55 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Antisemitismus 1900–1938
menzuwachs erlebte. Aber mit 1,9 Prozent der Stimmen bei den Gemeinderatswahlen
1932 war sie im Vergleich zur nsDaP das weitaus weniger erfolgreiche politische
Angebot.
Dramatisch war die Situation im Antisemitismus-freien bürgerlichen Lager Wiens,
denn die Liberalen verloren jeglichen Rückhalt in der Wählerschaft : Erhielten sie bei
der Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung im Februar 1919 noch knapp
sieben Prozent der Stimmen, schrumpften sie bis zu den Wahlen 1923 auf unter zwei
Prozent und glitten somit in die völlige Bedeutungslosigkeit ab. Im Hinblick auf die
jüdische Bevölkerung muss das als dramatisch bezeichnet werden, denn es gab danach
kein von Antisemitismus unberührtes bürgerliches Wahlangebot mit Erfolgsaussicht.
Die jüdischen Listen konnten trotz des jüdischen Bevölkerungsanteils von zehn Pro-
zent in Wien nicht genügend Wählerstimmen auf sich ziehen, um relevante Erfolge
zu erzielen. Damit sah sich die jüdische Bevölkerung gezwungen, vornehmlich sozial-
demokratisch zu wählen, obwohl dies der sozialen Zusammensetzung und politischen
Orientierung der jüdischen Wählerschaft keineswegs entsprach. 9 Wie sehr dies mit
den eigentlichen politischen Orientierungen auseinanderklaffte, zeigen Vergleiche mit
den Wahlergebnissen für die Israelitische Kultusgemeinde in Wien. Dort dominierte
die liberale Union österreichischer Juden bis zur Wahl 1928 und wurde erst bei der
Wahl vom 4. Dezember 1932 von den zionistischen Listen ganz knapp übertroffen. 0
Dass zwei „linke“ Listen gemeinsam nur 12,4 Prozent erzielten, zeigt, wie gering die
Verankerung der Sozialdemokratie in dem Segment der wählenden jüdischen Männer
– Frauen waren nicht wahlberechtigt – war. Religiöse und orthodoxe Listen wurden
gar nur von 8,9 Prozent gewählt.
Zurück zu den Kommunal- und Nationalratswahlen und der einst so erfolgrei-
chen antisemitischen Christlichsozialen Partei : Nach der Einführung des allgemeinen
Wahlrechts in der Ersten Republik schwankten die Wähleranteile der Christlichsozia-
len in Wien nur mehr zwischen einem Fünftel und einem Drittel der Wählerstim-
men. Ein Sonderfall ist das „Einheitsliste“ genannte Wahlbündnis, das Christlich-
soziale und Deutschnationale 1927 vereinte und das sogar um bürgerliche jüdische
Wählerstimmen warb und ca. 37 Prozent der Wiener Stimmen erhielt.
Die aggressiv antisemitischen Deutschnationalen schienen in der Ersten Republik
zunächst weiterhin keine große Gefahr zu sein, ihr Stimmenanteil pendelte zwischen
fünf und zehn Prozent, wobei sie bei den Nationalratswahlen erfolgreicher waren.
Walter B. Simon, „The Jewish Vote in Vienna“, in : Jewish Social Studies 23, 1961, Nr. 1, S. 38–48.
0 Harriet Pass Freidenreich, Jewish Politics in Vienna 1918–1938, Bloomington, Indianapolis 1991.
Bericht des Präsidiums und des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in den
Jahren 1933 – 1936, Wien 1936, S. 8 f.; Die Stimme. Jüdische Zeitung vom 10. November 1936, S. 1.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519