Seite - 62 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Murray G. Hall
gen, dafür aber haben wir den festen Entschluss, zur Befreiung von der jüdischen
Fremdherrschaft im Lande, in der Stadt und auf der Regierungsbank, zur inneren und
äußeren Loslösung vom jüdischen Geiste in der Presse, in den Geschäften und im
Vergnügen. Wir wollen wieder selbständig und einig auf dem Boden des praktischen
Christentums werden.“
In Bettauers Roman wird es aus dem Mund des Bundeskanzlers heißen : „Sehen wir
dieses kleine Österreich von heute an. Wer hat die Presse und damit die öffentliche
Meinung in der Hand ? Der Jude ! Wer hat seit dem unheilvollen Jahre 1914 Milliar-
den auf Milliarden gehäuft ? Der Jude ! Wer kontrolliert den ungeheuren Banknoten-
umlauf, sitzt an den leitenden Stellen in den Großbanken, wer steht an der Spitze fast
sämtlicher Industrien ? Der Jude ! Wer besitzt unsere Theater ? Der Jude ! Wer schreibt
die Stücke, die aufgeführt werden ? Der Jude ! Wer fährt im Automobil, wer praßt in
den Nachtlokalen, wer füllt die Kaffeehäuser, wer die vornehmen Restaurants, wer
behängt sich und seine Frau mit Juwelen und Perlen ? Der Jude !“
Die „logische“ Schlussfolgerung Schwertfegers : „Entweder wir oder die Juden !“
In Mein Kampf ist Hitler keine Spur weniger apodiktisch : „Mit dem Juden gibt es
kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder-Oder.“
Der vorhin zitierte von Kooperator Schmid vorgetragene antisemitische Eifer war
in katholischen Kreisen nichts Neues, ja genauso wenig war Bettauers Roman die
erste literarische Darstellung eines Österreich bzw. Wien „ohne Juden“. Man erinnere
nur an das bereits im Jahr 1900 in St. Pölten erschienene Buch des „geistlichen Volks-
erzählers“, Prälat Dr. Joseph Scheicher (1842–1924), unter dem Titel Aus dem Jahre
1920. Ein Traum. Auf neunzig Seiten entwirft Scheicher einen „Staat ohne Juden“, das
Bild der von Juden befreiten „Vereinigten Oststaaten“, die aus dem morschen Gebilde
des Vielvölkerstaats der Habsburger freiwillig zustande gekommen sind. Auch hier
die traditionellen antisemitischen Klischees und Stereotypen in Hülle und Fülle, die
in der Reichspost gang und gäbe waren und die in Bettauers Roman wiedergegeben
bzw. tradiert werden.
In Wien herrschte eine regelrechte Erregungskultur. Am 9. Oktober 1919 hielt der
christlichsoziale Abgeordnete und stellvertretende Obmann der Wiener Christlichso-
zialen, Leopold Kunschak – heute ein Säulenheiliger der Österreichischen Volkspartei
–, in der Volkshalle im Rathaus einen gut besuchten Vortrag zum Thema „Volksre-
publik oder Judenstaat ?“ Kunschak machte aus seinem Herzen keine Mördergrube
Reichspost, am 7.10.1919
Hugo Bettauer : Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von Übermorgen. Mit einem Nachwort von Murray G.
Hall, Berlin 1988, S. 12.
Ebd., S. 12.
Hitler, Mein Kampf, S. 225.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519