Seite - 83 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Bild der Seite - 83 -
Text der Seite - 83 -
Generationenkonflikte
dem traditionellen Berufs- und Ausbildungsweg und die Herauslösung aus dem Fa-
milienverband.
Vor allem ab Mitte der Dreißigerjahre führte die fortschrittliche Ausrichtung des
zionistischen Nachwuchses in Österreich, besonders der „chaluzischen“ Jugendbünde,
zu schweren Konflikten mit dem bürgerlich-konservativen „Zionistischen Landes-
verband“. Auch kam es bald zum Austritt der rechten, gemäßigten und religiösen
Jugendbünde – des „Betar“, der Jugend der „Allgemeinen Zionisten B“ sowie der
„Misrachi-Jugend“ – aus dem „Hechaluz“. 9
Willy Ritter, Schüler des Realgymnasiums in der Sperlgasse im zweiten Bezirk, war
Mitglied, später auch Führungsmitglied des „Verbandes Zionistischer Mittelschüler“
und gehörte gleichzeitig dem linkszionistischen Jugendverband „Haschomer Hazair“
an. Diese Doppelmitgliedschaft erwies sich in der Praxis als problematisch, wie sich
Ritter später erinnerte : „Im ‚Haschomer Hazair‘ sah man den Verband Zionistischer
Mittelschüler nicht sehr gerne. Seine Leiter waren bereits ganz auf die ‚Alija‘ aus-
gerichtet und betrachteten es als ihr Ziel, die Mitglieder zur produktiven Arbeit zu
erziehen. Sie wollten Handwerker, an Mittelschülern waren sie nicht interessiert. Sie
nahmen uns zwar auf, aber der ‚Verband Zionistischer Mittelschüler‘ war in ihren Au-
gen eine reaktionäre Bewegung. Für die meisten damaligen Zionisten in Wien bestand
der Zionismus darin, dass man für den ‚Keren Kajemet‘ arbeitete, zum Grab Herzls
ging und Hebräisch unterrichtete. Es war ganz klar, dass die Mitglieder des Verban-
des ‚Zionistischer Mittelschüler‘ später an die Universität gehen und einer zionisti-
schen Studentenverbindung beitreten würden. […] Der ‚Haschomer Hazair‘ hatte im
Gegensatz dazu eine absolut zionistisch-chaluzische Einstellung. Das heißt, er wollte
die Leute schon von jung auf davon überzeugen, dass man nach Palästina auswandern
und [beruflich] umschichten solle. Doch solange ich erst 14, 15 oder 16 Jahre alt war,
konnte ich mich, auch wegen meiner Eltern, nicht dafür entscheiden.“ 0
Auch Alfred Reischer, der dem rechtszionistischen Jugendbund „Betar“ angehörte
(siehe unten), erlebte einen ähnlichen Konflikt mit seinen gesellschaftlich gut integ-
rierten Eltern, weil diese seiner zionistischen Tätigkeit „Vollkommen fremd gegen-
überstanden“. „Der Vater lebte in der Illusion, in der eigentlich die ganze Generation
von österreichischen Juden von ihm und vor ihm gelebt hat : ‚Wir sind gute Bürger
und haben unserem Vaterland treu gedient – warum sollte man uns etwas antun ?‘
Wir, die Generation, die damals aufwuchs, waren hingegen in der Schule und in
Anderl, Jensen, „Zionistische Auswanderung“, in : Horvath, Neyer (Hg.), Auswanderungen aus Öster-
reich, S. 192 ff.
0 Interview Gabriele Anderl mit Willy Ritter ; Anderl, „Porträts“, in : Hagen, Nittenberg (Hg.), Flucht in
die Freiheit, S. 208 ff.
zurück zum
Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519