Seite - 90 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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0 Gabriele Anderl
und Oberschulen in Wien eine konfessionelle Klassentrennung eingeführt. Proteste
der ikg hatten zumindest das Resultat, dass der weitere Ausbau dieses Programms
gestoppt wurde. 9
Österreich wurde nach 1933 seinerseits zu einem Zufluchtsland für jüdische Emi-
grantinnen und Emigranten aus dem „Dritten Reich“. Die österreichischen Jüdinnen
und Juden mussten von nun an jederzeit auf ein Übergreifen des nationalsozialisti-
schen Terrors auf Österreich rechnen. Insofern hatte die Migration aus Österreich
nach Palästina zwischen 1933 und dem März 1938 immer auch etwas mit dem na-
tionalsozialistischen Deutschland zu tun. Sie hatte doch immer den Charakter eines
präventiven, indirekten Fliehens, einer vorweggenommenen Reaktion auf etwas, das
zu kommen drohte – und schließlich auch eintraf. 0
Waren es zum allergrößten Teil Zionistinnen und Zionisten, die sich vor 1938 für
eine Übersiedlung nach Palästina entschieden, so gab es doch auch Ausnahmen von
dieser allgemeinen Tendenz. Ein Beispiel ist der 1917 geborene Willy Verkauf-Verlon.
Für ihn waren die politische Situation im Österreich der Zwischenkriegszeit sowie die
Entwicklungen in Deutschland die zentralen Motive für die Auswanderung.
Durch die politischen Entwicklungen in Österreich ab 1927 früh politisiert, war
er zunächst den „Roten Falken“, 1931 der „Sozialistischen Arbeiterjugend“ und
schließlich 1932 – „Wegen der zurückweichenden Sozialdemokratie gegenüber dem
schleichenden, hausgemachten Faschismus enttäuscht“ – dem Kommunistischen Ju-
gendverband beigetreten. Durch die Entwicklungen der Dreißigerjahre in Österreich
alarmiert, drängte er seine Familie zum Verlassen des Landes. In seinen Erinnerungen
beschrieb Verkauf-Verlon, wie es zu diesem Entschluss gekommen war : „Auch Hitlers
‚Mein Kampf‘ las ich und nahm die Zielsetzungen des auch in Österreich aufkom-
menden Nationalsozialismus wahrscheinlich ernster als mancher Erwachsene. 1933
wurde in Österreich das Parlament ausgeschaltet, der Kommunistische Jugendver-
band verboten, ebenfalls der traditionelle Fackelzug der Jugendsozialisten am Abend
des 30. April, und zum ersten Mal seit Jahrzehnten auch der Aufmarsch der Wiener
Sozialdemokraten am 1. Mai. Bundesheersoldaten mit Maschinengewehren hinter
Stacheldrahtverhauen versperrten den Zugang zur Ringstraße. Vorher hatte ich am
30. Jänner 1933 den Siegestaumel der Wiener Nazis anlässlich der Bestellung Hitlers
zum Reichskanzler erlebt. Dies und eigene Zusammenstöße mit der Polizei waren
der Grund, weshalb ich meine Eltern zum Verlassen Österreichs bewog. Mein Vater,
zumindest ein aufmerksamer Leser der liberalen und sozialdemokratischen Presse,
ein Beobachter meines Interesses für die Politik, war unschwer dazu zu überreden.
Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 14.
0 Pelinka, Emigration, S. 19.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519