Seite - 92 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Gabriele Anderl
eine Stärkung des zionistischen, „chaluzischen“ Elements unter der jüdischen Jugend
in Österreich während der letzten Jahre vor dem „Anschluss“.
Auch durch die Kinder jüdischer Flüchtlinge, die ab 1933 aus Deutschland nach
Österreich kamen, erlebten die chaluzischen Jugendorganisationen in Österreich in
den Jahren vor dem „Anschluss“ eine Stärkung.
Motiv für eine vermehrte Bereitschaft zur Auswanderung in den Dreißigerjah-
ren war nicht zuletzt die steigende Arbeitslosigkeit in Österreich, von der besonders
auch Teile der jüdischen Bevölkerung betroffen waren. Dies spiegelte sich auch in der
wachsenden Zahl jener Personen wider, die Fürsorgeleistungen der Wiener jüdischen
Gemeinde in Anspruch nehmen mussten. Ohne die Flüchtlinge aus Deutschland und
Durchwanderer aus anderen Ländern mitzurechnen, erhöhte sich die Zahl der von
der „Allgemeinen Fürsorge“ der Kultusgemeinde erfassten Personen zwischen 1932
und 1936 von rund 44.000 auf rund 60.000. Betroffen waren in Not geratene be-
ziehungsweise aus dem Arbeitsleben verdrängte Angehörige von freien Berufen (wie
Künstler, Intellektuelle, Ärzte und Rechtsanwälte), Arbeiter und Angestellte sowie
Industrielle, Kaufleute und Gewerbetreibende, deren Betriebe zugrunde gegangen
waren. Die Ausgaben der Kultusgemeinde für die „Offene Fürsorge“ sollen im Jahr
1937 rund zwei Millionen Schilling betragen haben.
Die berufliche Aussichtslosigkeit, ganz besonders für jüdische Zuwanderer aus
Osteuropa, erlebte auch Juda Weissbrod (Yehuda Brott), Mitte der Dreißigerjahre
Generalsekretär des österreichischen „Hechaluz“. Er war 1908 in Tarnopol geboren
und 1914 nach Wien gekommen. Obwohl er zwei Studien, das der Chemie und
jenes der Pharmazie, abgeschlossen hatte, gelang es ihm nicht, eine seiner Ausbil-
dung entsprechende Anstellung zu bekommen. Eine Tätigkeit als Apotheker blieb
ihm schon deshalb versperrt, weil er nicht zu einem dafür notwendigen Praktikum
zugelassen wurde. Das Bewerbungsgespräch im Jahr 1934 verlief nach Weissbrods
Darstellung so : „‚Wie heißen Sie ?‘ – ‚Weissbrod.‘ – ‚Und wie noch ?‘ – ‚Juda.‘ ‚Woher
kommen Sie ?‘ – ‚Galizien.‘ – ‚Wo sind Sie geboren ?‘ – ‚In Galizien.‘ – ‚Wann sind
Sie nach Wien gekommen ?‘ – ‚1914.‘ – ‚Wann sind Sie Staatsbürger geworden ?‘
– ‚1919, 1920.‘“
Die Vorsprache endete damit, dass Weissbrod eine unbezahlte Praxisstelle für das
Jahr 1942 oder 1943 in Aussicht gestellt wurde.
Die verstärkte Nachfrage nach Zertifikaten bei gleichzeitig verminderten Ein-
wanderungsmöglichkeiten scheint bereits ab Mitte der Dreißigerjahre immer
Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 15 f.
Zit. in : Anderl, „Porträts“, S. 237 f.; Interviews Gabriele Anderl mit Juda Weissbrod (Yehuda Brott),
Jerusalem 1987 und 1989, in : Hagen, Nittenberg (Hg.), Flucht in die Freiheit.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519