Seite - 98 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Bild der Seite - 98 -
Text der Seite - 98 -
Gabriele Anderl
Evelyn Adunka hat sich in ihrem Buch Flucht in die Heimat mit dem Schicksal der
älteren Generation österreichischer Zionistinnen und Zionisten – einer durch ihre jahre-
lange Tätigkeit eng miteinander verbundenen Gruppe – befasst. Alle Betroffenen waren
in den Zwanziger- und Dreißigerjahren im Wiener jüdischen und zionistischen Leben
überaus aktiv gewesen, hatten Vorträge gehalten, verschiedenste Funktionen in Vereinen
und Organisationen innegehabt und regelmäßig in jüdischen Zeitschriften publiziert.
Obwohl sie vielfach ihr ganzes Leben in den Dienst der zionistischen Sache gestellt
hatten, konnten sich nur ganz wenige von ihnen vor dem „Anschluss“ zur Auswande-
rung nach Palästina entschließen. Tragischerweise gelang auch nach dem „Anschluss“ nur
einem Teil von ihnen die rettende Flucht nach Palästina – etwa Chaim Tartakower, Leo
Goldhammer, Isidor Schalit, Leopold Plaschkes, Leo Landau oder Eduard Pachtmann.
Viele andere konnten ihr Leben nicht retten. So wurde der prominente zionistische Poli-
tiker und Publizist Robert Stricker bereits kurz nach dem „Anschluss“ verhaftet und
1944 in der Gaskammer von Auschwitz ermordet. Adolf Böhm, den Verfasser der zwei-
bändigen Geschichte der zionistischen Bewegung, hatte Adolf Eichmann als Leiter der von
ihm reorganisierten Wiener jüdischen Gemeinde vorgesehen. Böhm erlitt jedoch einen
Nervenzusammenbruch und starb drei Jahre später in geistiger Umnachtung.
Doch auch jenen, die im letzten Moment mit Zertifikaten entkommen konnten,
gelang es nur in seltenen Fällen, sich in Palästina erfolgreich zu integrieren und wirt-
schaftlich zu konsolidieren. Der Wiener Schriftsteller und Journalist Z. F. Finkel-
stein hat die Situation dieser Menschen, die „zerschlagen an Leib und Seele, von der
braunen Sturzwelle, nach Erez Israel verschlagen wurden“ in beklemmender Weise
beschrieben :
„Verschlagen, da viele, allzu viele, trotz all der Träume und Ideale der Jugendjahre,
dem ehernen Ruf der Geschichte nicht rechtzeitig gefolgt sind. Wir, die wir führend
und erziehend eine Sendung in der Galluth zu erfüllen glaubten, blieben schreckens-
starr und hilflos, als diese Galluth im grausigen Fanal der modernen Barbarei ihr
geschichtliches Ende fand. Wir versäumten die Überfuhr und allzu jäh war der Über-
gang in ein erträumtes Land, dessen Wirklichkeit sich in einem rasenden Tempo des
Aufbaues, Umschichtung und Umwertung aller Werte offenbarte. Die Jugend stürzte
sich mit der naturgemäßen Unbekümmertheit in das aufschäumende Leben in den
Kibbuzim […], die anderen starrten ziellos und aufgewühlt ins Leere und warteten
vergebens auf das Wunder, das sie einst erträumt hatten. Das Wunder kam nicht und
die Not des Tages trieb so manchen in den Abgrund der Verzweiflung.“
Adunka ; siehe auch Rabinovici.
Zit. bei Adunka, Exil in der Heimat, S. 7.
Ebd., S. 13.
zurück zum
Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519