Seite - 166 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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1 Klaus S. Davidowicz
war bemüht, alle Elemente der originalen Fabel, die sich mir durch ihre Kraft und
Farbigkeit als solche erwiesen, unberührt zu erhalten.“
Als Michael Brocke erstmalig eine vollständige, originalgetreue deutsche Überset-
zung vorlegte, schrieb er : „In diesem Jugendwerk ging Buber mit unbekümmerter
Begeisterung ans Werk, sah sich über ein Jahrhundert hinweg als den wahren und
verständigen Jünger Nachmans […] und schrieb Nachmans Texte in größter Freiheit
um, nachdem er guten Glaubens versichert hatte, das von ihm Vorgefundene sei un-
zumutbar entstellt. […] Bubers Erfolg war groß, und nur seine ostjüdischen Leser
im Westen meldeten Zweifel an. Ansonsten scheint niemand nach dem Original und
Bubers Verhältnis zu ihm gefragt zu haben.“
Die chassidische Erneuerungsbewegung verwandelte sich bei Buber zur völligen Ab-
sage an Tradition und Ritual. In seiner Übersetzung von „Der Geschichte vom Rabbi
und seinem Sohn“ führt sogar das Festhalten an der jüdisch-orthodoxen Tradition zum
Scheitern der messianischen Erlösung. Bubers Form der freien Nachdichtung war damals
keineswegs ungewöhnlich. Sein Freund Gustav Landauer hatte den mittelhochdeutschen
Meister Eckhart ebenfalls 1906 übertragen. „Das allermeiste, was von ihm überliefert ist,
ist für uns völlig wertlos geworden, da es nur logisches Wortgetiftel ist, das damals die
Naturwissenschaft ersetzen musste, weil es an Beobachtungen und Kenntnissen fehlte.
[…] Die folgende Auswahl bietet also etwa den fünften oder sechsten Teil dessen, was auf
uns gekommen ist. Nichts, was Bedeutung hat, ist weggelassen.“
Trotz der berechtigten Kritik an der Vorgehensweise Bubers sollte herausgestellt
werden, was seine Arbeiten in einer Zeit, als der moderne Antisemitismus seine trau-
rige Blütezeit in Deutschland und Österreich hatte, bewirkten. Zur selben Zeit, als
im Westen Eugen Dühring oder Paul de Lagarde von Juden als „Ungeziefer“ oder
„Bazillen“ schrieben, erschütterten entsetzliche Pogrome, wie 1903 in Kishinev, Ost-
europa. Dadurch setzte eine große jüdische Auswanderungsbewegung in Richtung
Westen ein. Viele Menschen setzten diese zugewanderten „Ostjuden“ gleich mit
„Chassidim“ : „So wurde der Chassidismus zum Schlagwort für die in der abendlän-
dischen Kultur verbreitete negative Vorstellung vom Judentum. Wenn nun Buber das
geistige Feuer und den Reichtum des Chassidismus aufscheinen ließ, so verbesserte
er dadurch das Ansehen des Judentums überhaupt. Buber machte den Chassidismus
sozusagen hoffähig, indem er diese ausgeprägteste Äußerung osteuropäischen jüdi-
schen Geistes in Sprache und Ausdrucksformen der Jahrhundertwende kleidete, in
die der Neo-Romantik (und später des Expressionismus). In seiner Darstellung stellte
Martin Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, Frankfurt am Main 1906, S. 1.
Michael Brocke (hg.), Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw, Hamburg 1989, S. 298–299.
Gustav Landauer, Meister Eckharts Mystische Schriften, Frankfurt am Main 1991, S. 12.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519