Seite - 178 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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1 Armin Eidherr
In Wien (und Ähnliches ließe sich auch von anderen großen jüdischen Zentren
der ehemaligen Habsburgermonarchie – vor allem Lemberg und Czernowitz sagen)
sahen sich die Jiddischisten, die Vertreter also der jiddischen Sprachbewegung, für
die die Bewahrung ihrer Identität nur in engem Zusammenhang mit dem Jiddischen
vorstellbar war, vor allem als Kämpfer gegen Assimilation und waren entweder den
Konzepten des Diasporanationalismus, des Kulturzionismus oder des (Arbeiter-)Zio-
nismus zugeneigt.
Der Jiddischismus war wesentlich von dem 1864 in Wien geborenen Nathan Birn-
baum geprägt. Nach seinem Ausstieg (1898) aus der zionistischen Organisation trat
er „gegen die Taktik des politischen Zionismus und gegen seinen Ausgangspunkt,
dass in der Diaspora ein jüdisch-nationales Leben nicht möglich sei, auf. Laut Birn-
baums Meinung, müssen alle Kräfte des Volkes angewendet werden, um in der Ga-
luth Bedingungen zu schaffen, die die Möglichkeit einer kulturnationalen Existenz
sichern, wobei er für die Ostjuden [und generell Aschkenasen] die jiddische Sprache
als Grundlage des jüdisch-nationalen Lebens ansieht […]. 1910 agitierte er für die
Anerkennung der jiddischen Sprache bei der Volkszählung […]. Während des [Ers-
ten] Weltkriegs […] schloss sich Birnbaum den Orthodoxen an, indem er zur Über-
zeugung gelangte, der Bestand der jüdischen Nation läge in der strikten Beobachtung
der uralten religiösen Satzungen des Glaubens.“ 0
Für den historischen Hintergrund ist vor allem die von Birnbaum einberufene und
1908 in Czernowitz abgehaltene, sogenannte „jiddische Sprachkonferenz“ von Be-
deutung, bei der es um den „Kampf um das nationale Dasein“, besonders den Kampf
um Gleichberechtigung der jüdischen inmitten der anderen Nationen der Habsbur-
germonarchie ging, wobei gleichzeitig der jiddischen Sprache und Kultur für eine
jüdische Kulturautonomie eine zentrale Bedeutung zugemessen wurde. Die Wir-
kung dieser Konferenz, bei der Jiddisch schließlich der Status einer (aber nicht der)
jüdischen Nationalsprache zuerkannt wurde, setzte sofort ein. Der Erste Weltkrieg
erstickte vorerst viele Ansätze (etwa auf dem Gebiet der linguistischen oder ethno-
grafischen Forschung, aber auch hinsichtlich der literarischen Entwicklung). Anfang
1. Salzburg, im November 2001 (organisiert von Armin Eidherr und Karl Müller) : Jiddische Kultur in
Österreich. Texte und Kontexte. (Im Internet : www.sbg.ac.at/ger/kmueller/jiddisch.htm)
2. Wien, im Juni 2007 (Institut für Judaistik, organisiert von Armin Eidherr) : „Im Geiste der KRITIK“
– Der Beitrag der österreichisch-galizischen jiddischen Kultur zur jiddischen Weltkultur. Internationale
Jiddistische Tagung. (Im Internet : http ://www.matulamedia.at/kongress/index.html)
0 S. Wininger, Große Jüdische National-Biographie. Ein Nachschlagwerk für das jüdische Volk und dessen
Freunde Bd. 1, Czernowitz o.J. [1925], S. 380. (Winingers Werk umfasst sieben Bände ; der letzte er-
schien 1936 in Czernowitz.)
Zur Czernowitzer Konferenz s. u. a. folgende Spezialnummern der Zeitschrift Afn shvel, New York, 271
(1988), 311 (1998), 329–330 (2003).
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519