Seite - 179 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit 1
der Zwanzigerjahre wurde jedoch wieder voll und ganz an die vom „Geist der Czerno-
witzer Konferenz“ beflügelten Unterfangen angeknüpft. (Sogar den Status einer Art
„Staatssprache“ bekam das Jiddische ab der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre in der
Autonomen Jüdischen Republik Birobidshan im äußersten Osten der Sowjetunion,
was der ganzen jiddischen Kulturwelt bzw. Weltkultur Impulse gab, ohne dass der
Fallen- und Blendwerkcharakter dieses „Projektes“ vorerst erkannt wurde.)
Einen Jiddischismus in Wien als organisierte Strömung mit quasipolitischen, ideo-
logischen Zielen konnte es nur vor dem Ersten Weltkrieg geben. (Immerhin mag er
wenigstens bei einer Minderheit eine günstigere Aufnahme des „echten“ jiddischen
Kulturaufschwungs ab der Zeit des Ersten Weltkriegs mit dem Zuzug vieler Ostjuden
nach Wien bewirkt haben.) Mit dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie
verlor er, der ja zumeist nicht an den politischen Zionismus, sondern an Birnbaums
Galuth-Nationalismus gebunden war, in Österreich seine aktivistische Kraft, weil nun
im Kampf gegen die Assimilation nicht mehr an eine Forderung nach Autonomie in
realpolitischer Hinsicht gedacht werden konnte. (Eine solche schien nach dem Ersten
Weltkrieg, wie gesagt, in Russland, aber auch in Polen verwirklichbar bzw. schon in
Umsetzung begriffen.) Unter den neuen Bedingungen war aber allenfalls der Jiddi-
schismus noch als eine geistige Autonomie, die freilich leicht Gefahr laufen kann, eine
„abgehobene“ Note zu bekommen, vorstellbar.
Wie weit spätere, zumeist zynische Schilderungen der Birnbaumkreise vor dem
Ersten Weltkrieg schon durch spätere Erfahrungen und Sichtweisen geprägt sind, als
der Jiddischismus in Österreich sich weit vom Politisch-Aktivistischen entfernt hatte,
lässt sich wahrscheinlich nie mehr ganz objektiv feststellen.
Birnbaum veranstaltete ab 1904 in Wien „jiddische Abende“, bei denen etwa jid-
dische Originalwerke rezitiert wurden. Sie fanden immerhin in Studentenkreisen An-
klang, und schon 1905 wurde mit dem Verein „Jüdische Kultur“ der erste jiddischis-
tische Studentenverein gegründet. Jiddisch wurde von ihnen zur Kultursprache ,
d. h. von einer Volkssprache zur Intellektuellensprache, erhoben. Birnbaum gelang es,
mit seinem Jiddischismus auch in anderen Städten (Krakau, Lemberg, Czernowitz,
Berlin) die damals studierende Jugend mitzureißen. In diesen Studentenkreisen, be-
richtet Rawitsch, „spricht man demonstrativ jiddisch – sogar wenn es mehr Deutsch
als Jiddisch ist. Birnbaum selbst verfällt beim Sprechen ununterbrochen – vom Jid-
dischen ins reinste Deutsch. Seine Rede auf der Czernowitzer Konferenz [1908] hielt
Mendl Naygreschl, „Di moderne yidishe literatur in galitsye [1904–1918]“, in : Fun noentn òver, New
York 1955, S. 265–398, S. 372.
Das war sie natürlich sowieso schon längst. Vergleiche meinen Aufsatz : „Das Jiddische als Kultursprache
der Aschkenasim. Außen- und Innen-Perspektiven“, in : Chilufim 1, Salzburg 2006, S. 32–58.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519