Seite - 232 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Karin Stögner
dern naturgegeben sei die Vorherrschaft und die Durchsetzung partikularer Interessen
als das Allgemeine.
In diesen blinden Zweckzusammenhängen wird Identität zum Korsett, das die
mit sich selbst unidentischen Individuen von außen stützt. Mit „Rasse“, Vaterland,
Führer, Cliquen und Tradition soll der realitätsgerechte Geist nicht nur paktieren,
sondern gleichsam sich auf ganzer Ebene identifizieren. Der Zwang zur Einheit ist
totalitär und lässt keinen Zweifel zu. Der Zweifel aber, den diese auf Totalität abzie-
lende Geisteshaltung so hasst und fürchtet, ist das Medium der Selbstreflexion, die
von dem erkenntnisleitenden Wissen lebt, dass zwischen dem realen Gegenstand und
dem Sinnendatum, das er als Spur in der Wahrnehmung hinterlässt, ein Abgrund
klafft. Dieses Wissen setzt sich dem sich absolut setzenden Wissen, das im Monismus
zum neuen Götzen emporsteigt, entgegen und bringt den Anteil des Subjekts in der
Wahrnehmung des Objekts zum Bewusstsein. Im Antisemitismus werden der Zweifel
und die Uneindeutigkeit, ja das sich der Eindeutigkeit Entziehende, mit dem Jüdi-
schen identifiziert.9 Der Grund dafür liegt nicht allein im antisemitischen Denken
selbst, sondern findet Bestätigung in den Erfahrungen der Juden und Jüdinnen in
Deutschland und Österreich um die Jahrhundertwende. Zwischen ihrem Deutsch-
sein und ihrem Jüdischsein ließ man sie auch nach den Prozessen der Emanzipation
und Assimilation keine einfache Verbindung ziehen, wenngleich die deutsche Kultur
ohne die jüdische nicht denkbar gewesen wäre und umgekehrt, ein Umstand, der
Heinrich Mann etwa fragen ließ, was die deutsche Kultur ohne die Juden sei. 0 Und
in der Tat sahen auch Juden selbst, wie etwa Walter Benjamin, das Judentum als
Repräsentanten des Geistigen und der Kultur in Deutschland, was seinerseits Vor-
behalte gegenüber dem Zionismus implizierte. Dem nationalistischen zionistischen
Projekt setzten er und andere das Konzept des Kultur-Zionismus und des „intellek-
tuellen Literaten-Juden“ entgegen, einer geistigen und kulturellen Elite, die aus der
deutsch-jüdischen Erfahrung der Zweiheit eine dualistische Lebensauffassung zog, in
welcher gerade der Zwang zur eindeutigen Identität – deutsch oder jüdisch – zum
Ort und zum Gegenstand der Erfahrung gemacht wurde. Während also die Er-
Vgl. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main 1967, S. 111.
Vgl. Christina von Braun, „,Der Jude‘ und ,Das Weib‘. Zwei Stereotypen des ,Anderen‘ in der Mo-
derne“, in : metis 2/1992, S. 6–28, S. 8.
0 Vgl. zu diesem Komplex des Zusammenwirkens von jüdischer und deutscher Kultur : Frank Stern, Dann
bin ich um den Schlaf gebracht. Ein Jahrtausend jüdisch-deutsche Kulturgeschichte, Berlin 2002.
„Und eben nicht sowohl das National-Jüdische der zionistischen Propaganda ist mir wichtig, als der heu-
tige, intellektuelle Literatenjude“, schrieb Walter Benjamin 1913 an Ludwig Strauß (Walter Benjamin,
Gesammelte Briefe I, Frankfurt am Main 1995, S. 83).
Vgl. Astrid Deuber-Mankowski, Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kriti-
sche Philosophie, vergängliche Erfahrung, Berlin 2000, S. 294 ff.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519