Seite - 241 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 1
für die Aufrechterhaltung bzw. Restabilisierung der Einheit der Ingroup notwendigen
Andersheit der Outgroup. Das künstlich und zwanghaft zusammengeschmiedete, in
sich jedoch antagonistische Kollektiv bestätigte sich seiner selbst in der Setzung des
unüberwindlichen Unterschieds von Ingroup und Outgroup. Analog zur Refabrizie-
rung „jüdischer Andersartigkeit“ in den vergeschlechtlichten Bildern des männlichen
Juden ist eine Wiederherstellung der „Weiblichen Andersartigkeit“ im Bildarchiv der
Moderne zu beobachten. Der Zweck der Übung war aber nicht etwa ein „Volkskör-
per“, wie den Massen vorgegaukelt, sondern die Erhaltung des Privilegs Einzelner,
welches sich als Allgemeines ausgibt.
Realer Gehalt dieser Bilder ist die Ablehnung der Emanzipation sowohl der Frauen
als auch der Juden, hinter der der Hass auf den Liberalismus steht. Dieser hatte die
Idee der allgemeinen Menschenrechte ausgebildet, jedoch nur als Idee und als Ver-
sprechen, sie aber nicht durchgängig verwirklicht in den realen Lebenswelten der
Menschen. Horkheimer und Adorno interpretieren deshalb den modernen Antise-
mitismus auch als Reaktion auf diese Enttäuschung des Liberalismus : „Weil die be-
trogenen Massen ahnen, daß dies Versprechen, als allgemeines, Lüge bleibt, solange
es Klassen gibt, erregt es ihre Wut ; sie fühlen sich verhöhnt. Noch als Möglichkeit,
als Idee müssen sie den Gedanken an jenes Glück immer aufs neue verdrängen, sie
verleugnen ihn umso wilder, je mehr er an der Zeit ist.“ 9 Emanzipation wurde vom
antisemitischen und frauenfeindlichen Standpunkt her stets mit Besitz und Bildung
zusammengedacht. Die „Frau“ sei geprägt vom „Mammongeist“, während der „Jude“
ohnehin den „Parade-Materialist“ repräsentiere ; das „Hirngespinst von der Verschwö-
rung lüsterner jüdischer Bankiers“ 0 gehört ebenso in diese Sparte wie das Klischee
der „Verschwenderischen, schmuckbehangenen Jüdin“. Das antimoderne Moment im
modernen Antisemitismus ist gerade auch für die Bilderwelt, die er errichtet, von ent-
scheidender Bedeutung : die Gier nach unmittelbarer Aneignung und Überwältigung,
nach Ausschaltung der vermittelnden Instanzen des liberalistischen Kapitalismus. Der
moderne Antisemitismus weist auch ein verzerrtes antikapitalistisches Element auf, in
dem der „Jude“ als Personifizierung des Kapitalismus eingesetzt wurde. Die „antikapi-
talistische Revolte“ des Antisemitismus geriet zur „Revolte gegen die Juden“. Juden
wurden aber nicht einfach mit dem kapitalistischen System schlechthin identifiziert,
sondern mit der Zirkulationssphäre, die als vermittelnde Sphäre nach dem Libera-
lismus zunehmend an Bedeutung verlor. Ab dann erst legte der „Antikapitalismus“
Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 196f.
0 Ebd.
Moishe Postone, „Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch“, in : Dan Diner
(Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main, S. 242–254, S. 251.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519