Seite - 242 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Karin Stögner
des Antisemitismus so richtig los : „Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für
die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein.“ Der Antisemitismus hat
einen wesentlichen Schritt der Abstraktion nicht vollzogen und verharrt im Bereich
der Unmittelbarkeit von Herrschafts- und Wirtschaftsverhältnissen. Ein Merkmal
des Antisemitismus ist nach Jean-Paul Sartre, „daß der tatsächliche Besitz eines be-
stimmten Dinges auf magische Weise den Sinn dieses Dinges vermittelt“. Gegen
die zunehmend abstrakt werdenden Eigentumsformen setzt der Antisemitismus eine
primitive Aneignung, die sich auf „einen wahrhaften, magischen Zusammenhang
mit dem Besitz gründet“ Da sich aber das begehrte Materielle konsequent der Er-
fahrung und dem Erleben der einzelnen AntisemitInnen entzieht, beharren sie so
unerbittlich auf einer mythischen Transzendenz des Materiellen bei gleichzeitigem
Hass auf die RepräsentantInnen des Abstrakten. Unbewusst reagiert der Antisemi-
tismus auf die Dialektik von Abstraktem und Konkretem, indem er im „Juden“ als
dem „Träger des Abstrakten“ gerade das Materielle hasst. Natur, durch perennierende
Beherrschung entsubstantiiert und jedem herrschaftlichen Belieben unterworfen,
wird dem, der Natur sowohl innen als auch außen beherrschen muss, zum abstrakten
Feld, das gleichzeitig in seinen Tiefen sinnlich lockend wirkt. Es verwundert folglich
nicht, dass Frauen und Juden zu Synonymen für diese als widersprüchlich, abstrakt
und konkret zugleich erscheinenden „Tiefen der Natur“ werden. Abstrakte Natur im
Sinne von nichterfahrener, verdrängter Natur rematerialisiert sich in den Bildern des
„Juden“ und des „Weibes“, die beide durch die herrschende Begrifflichkeit von ihrem
Menschsein abstrahiert, durch Herrschaft dehumanisiert und sinnlich konkret nur
noch im Angriff auf ihren Leib erfahrbar sind. Die Transzendierung des Materiellen
soll Abhilfe für die erdrückende Faktizität des Bestehenden schaffen ; alle Wut wird
darauf gelenkt, was die unmittelbare Präsenz des Körpers und sein nicht eingelöstes
Lustversprechen vor Augen führte : das „lockende Weib“ und der „sinnliche Jude“.
Der Verbindung von Geld und Natur, manifest sowohl im Bild des Juden als
auch der Frau, ist eine deutlich sexualisierte Komponente eigen : Nicht selten geht
die der „Jüdin“ als der „sexuellen Frau“ zugeschriebene Wolllust in eine Gier nach
Gold über, wie Bram Dijkstra anhand der antisemitisch-frauenfeindlichen Literatur
des Fin de Siècle nachzeichnet. Jedoch auch das Gold erfüllt eine Stellvertreter-
funktion ; denn eigentlich ist die Gier des „Weibes“ nach männlicher Potenz und ihr
Streben, den Mann solcherart zu depotenzieren, gemeint. Dass der „arische“ Mann
sich nicht mit der sexuellen, von unfruchtbarer Geschlechtlichkeit gekennzeichne-
Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 198.
Jean Paul Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus, Zürich 1948, S. 20.
Ebd.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519