Seite - 244 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Bild der Seite - 244 -
Text der Seite - 244 -
Karin Stögner
eine Form von Weiblichkeit, deren Heroismus und Autonomie in die faden bür-
gerlichen Verhältnisse hineinschimmerten. In der Literatur des späten neunzehnten
Jahrhunderts erfuhren sie deshalb sonderbaren Aufschwung, wobei eine Verderben
bringende, lustvoll entmännlichende Weiblichkeit im Zentrum stand. Friedrich Heb-
bels Judith und Oscar Wildes Salome etwa sind durchaus Sympathieträgerinnen, was
jedoch nichts an der Zerstörungswut ändert, die als ihr Wesensmerkmal ausgegeben
wird. Sie repräsentieren ein kollektives Einstimmen in die Zertrümmerung der ver-
hassten Ambivalenz der Moderne und sind der literarische Nachvollzug jener Bewe-
gung, welche die Wahrnehmung der gesellschaftlichen und technischen Neuerungen
vom Fortschritt hin zum Katastrophischen am Ende des neunzehnten Jahrhunderts
eingeschlagen hatte. Teil der „Feminisierung der Kultur“, zeugen sie von der tiefen
Krise der männlichen Identität, als Produkt einer gewandelten Moderne, in welcher
der optimistische Glaube in den Fortschritt und die epochale Aufbruchstimmung
einer morbiden Höllenstimmung gewichen waren.
Dalila ist keine Jüdin, sondern Philisterin, ein Unterschied, der dem antisemitisch-
misogynen Stereotyp von wenig Bedeutung ist, denn wichtig ist sie als Repräsentan-
tin des weiblichen Phallus, als die der Kastration fähige Frau also. Viele biblische
Frauengestalten haben in ihrer modernen Deutung mit den mythischen, der Medusa
etwa oder der Pandora, eines gemeinsam : sie sind Ausgeburten einer männlichen
Kastrationsangst, die den Antisemitismus und den Antifeminismus zuinnerst mo-
tivieren. In der häufigen Repräsentation dieser Frauenfiguren wird die „unheimlich
bedrohliche Perspektive erkennbar, worin sich Salome, Judith und Dalila seit Beginn
der bürgerlich-säkularisierten Neuzeit gestellt sehen. Sie meinen die weltliche Hölle.
Das Gegenbild mithin zur Madonna.“ 9 Weiblichkeit wurde aufgespaltet : einerseits
in die Vorstellung der „reinen“ Madonna, die in den abstrakten Frauenfiguren des
Jugendstils säkularisiert und in den strammen, entweiblichten, reproduktionstüchti-
gen Frauenkörpern des Nationalsozialismus endgültig in die völkische Ideologie ein-
gebracht wurde ; andererseits ins „böse“ Bild, in welches man die „Verderblichen“
jüdischen Frauenfiguren aus dem Alten Testament bannte. Die Scheidung von Al-
tem und Neuem Testament wurde vonseiten der christlichen Gesellschaft auch ent-
lang der jeweils zugeschriebenen weiblichen Geschlechtscharaktere vollzogen. Die
christliche Ambivalenz gegenüber dem Weiblichen fand insofern auch Ausdruck im
christlichen Antijudaismus, von dessen Traditionen und Motiven der moderne Anti-
semitismus zehrte. Die Kompromisslösung der Aufspaltung von Weiblichkeit aber
ermöglichte die Verwertung der weiblichen Reproduktionsfähigkeiten und ihre Ein-
bindung in den „Volkskörper“ bei gleichzeitiger Stigmatisierung des Weiblichen als
Hans Mayer, Außenseiter, Frankfurt am Main 2001 (erste Auflage 1975), S. 35.
zurück zum
Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519