Seite - 249 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Bild der Seite - 249 -
Text der Seite - 249 -
Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle
Doch sind dies relativ späte Ausformungen des Judith- und Salome-Themas, in
denen die männliche Angst vor weiblicher Intelligenz bereits in ihre Negation um-
gewandelt wurde. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren Judith und Sa-
lome aber noch die Frauen mit den geistigen Waffen der Männerwelt, an der das Auf-
brechen feudaler Grenzen manifestiert wurde. In dem Essay „Die ewige Jüdin“ von
1869 charakterisierte Karl Gutzkow Salome als Produkt einer dekadenten Spätzeit,
„die alle Vorurteile überwunden hatte, ausgestattet mit der gesamten Bildung der da-
maligen Zeit“. 0 Die Stichworte „Bildung“ und „Vorurteilslosigkeit“ sind für das Bild
der Jüdin in der Aufklärung zentral. Bereits zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts
schrieb der Berliner Notar und Justizkommissär Carl Wilhelm Friedrich Grattenauer,
ein regelmäßiger Besucher jüdischer Salons, vom unweiblich hohen Bildungsstand
der „Salonjüdinnen“, der ansonsten nur adeligen Frauen zukäme. Für Jüdinnen sei
Bildung jedoch kein genuines Moment, sondern vielmehr eine künstliche, „Appre-
tur“, ein Täuschungsmanöver also, erworben im frühen kapitalistisch-materialisti-
schen Bildungsgeschäft. Gebildete Frauen wurden zumeist als „unauthentisch“ be-
trachtet ; Halbbildung und vermögendes Elternhaus waren zu dieser Zeit zwei gängige
Klischees der „Jüdin“ als überemanzipierte Kandidatin auf dem Heiratsmarkt. Die Sa-
lons, erste Kultur der Gemischtgeschlechtlichkeit, boten in ihrer Halböffentlichkeit
einen Schauplatz der Generalprobe weiblicher Emanzipation im Rahmen der Bürger-
lichkeit. Sie waren gewissermaßen das Pendant zum Befreiungskampf von Frauen in
den Reihen der ArbeiterInnenbewegung. Die Rolle der Muse, die gebildeten Frauen
im neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert zukam, verkehrte sich
unter dem Einfluss der neurotisch frauenfeindlichen Stimmung des Fin de Siècle ten-
denziell ins Bild des Vamps, der die schöpferische Kraft des männlichen Künstlers
aufsauge, selbst jedoch nicht mehr den hohen Bildungsstandards entspricht. Die Dar-
stellungen der Judith und Salome als heimtückische und triumphierende Weibsteufel
sind eine der Folgen der Angst vor weiblicher Intelligenz. So wurden ihre Schwerter
immer größer, während ihre Züge meist recht wenig den gängigen Klischees von
Weisheit entsprachen : Die Stirn der Frauen wurde mit Vorliebe als extrem niedrig
gezeichnet, sodass sich beim Betrachten die Frage stellt, ob in solch engen Schädeln
überhaupt Platz für ein Gehirn sei, während in die Züge ihrer unschuldigen männ-
lichen Opfer die Miene des Gelehrten gelegt wurde.
0 Zitiert nach Forian Krobb, Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzähllite-
ratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 1993, S. 252.
Vgl. Jeanette Jakubowski, „Vierzehntes Bild : ,Die Jüdin‘. Darstellungen in deutschen antisemitischen
Schriften von 1700 bis zum Nationalsozialismus“, in : Julius H. Schoeps, Joachim Schlör (Hg.), Anti-
semitismus. Vorurteile und Mythen, München 1995, S. 196–209, S. 200.
Vgl. die Judith Carl Schwalbachs (ca. 1914), Otto Friedrichs Salome (ca. 1912) ; oder das Bild Albert von Kel-
zurück zum
Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519