Seite - 251 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 1
lässt : „Ich stelle die Natur auf den Kopf, bei mir fließen die Ströme aufwärts.“ Einer
Naturkatastrophe gleich kommen solche „Weiber“ über die Soldaten in der Absicht, sie
zu kastrieren – die Todesangst der Soldaten an der Front spricht aus solchen Fantasien.
In die triebökonomische Kompensation des Grauens im Krieg spielen die gesellschaft-
lichen Geschlechterverhältnisse ganz wesentlich hinein. Klaus Theweleit arbeitete die
Komponenten der Vorstellungen vom Flintenweib anhand der Erlebnisberichte und
Abenteuergeschichten ehemaliger Freikorps-Männer heraus : überwiegend sind sie
durch die Attribute proletarisch, hinterlistig, jüdisch charakterisiert und als Huren ge-
zeichnet ; besonders aussagekräftig in Friedrich Ekkehards Beschreibung von Berliner
Straßenkämpfen im Jahr 1919. Eine Frau am Fenster schreit um Hilfe, der Protagonist
Warttemberg ist hingerissen, bald jedoch durchschaut er die List : „Bei Gott, das Weib
ist schön. Hinreißend in seiner Angst. Es scheint Warttemberg merkwürdig vertraut
– aber dann erinnert er sich : Bilder gaukeln ihm das vor – die alten Holzschnitte in
der großen Familienbibel der Warttembergs oben in Großmutters Stube – so sahen
sie aus, diese schönen alttestamentarischen Frauen – die Ruth, die Esther und die,
die den Kopf des Johannes forderte : Salome. Und so wie Salome, so steht das junge
Weib da oben im Fensterrahmen mit über den Kopf erhobenen nackten Armen, ein
schmales glitzerndes Band um Stirn und Haar. ,Vorsicht, Hans !‘ brüllt Warttemberg
hinüber. Angst würgt ihm in der Kehle. Weiß selber nicht warum. Ihm ist’s, als sähe er
alles das, was kommt und was dann abrollt : düsteres, unabwendbares Verhängnis.“
Die tückische, blutrünstige Frau mit ihrer verzückenden Schönheit lockt die Männer
in einen Hinterhalt : „Salome, Ruth, Esther – so steht sie eine halbe Treppe über ihm.
Den knappen Rock geschürzt, die Linke in die Hüfte gestützt, die Rechte mit der Pis-
tole erhoben. Das Weib, das sie heraufgelockt hat mit Rufen und Weinen […].“ Als
Ausfluss uneingestandener Ängste und verdrängter Wunschproduktion ist diese „Jü-
din“ zwischen Aversion und Attraktion angesiedelt, sie wirkt fremd und doch „merk-
würdig vertraut“. Die daraus resultierende Spannung entlädt sich im Blutrausch, der
ihr unterstellt wird, dem sie in der Realität aber zum Opfer fällt. Die „Jüdin“ als Pros-
tituierte und Flintenweib stellt die besonders bewaffnete Frau dar, nicht nur kämpft
sie mit der Waffe in der Hand gegen die „Volksgemeinschaft“, sondern darüber hinaus
noch mit der charakteristisch weiblichen List der Täuschung. Solche „Volksfremde“
Weibsteufel, die sich eingeschlichen haben, um inkognito für die internationale oder
bolschewistische „Verschwörung“ zu kämpfen, sind fixer Bestandteil der Dolchstoß-
Edwin Erich Dwinger, Die letzten Reiter, zitiert nach Klaus Theweleit, Männerphantasien 1. Frauen,
Fluten, Körper, Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 84.
Bemerkung : Salome ist eine „neutestamentarische“ Frau.
Friedrich Ekkehard, Sturmgeschlecht, zitiert nach Ebd., S. 84f.
Ebd., S. 87.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519