Seite - 253 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle
Diese Möglichkeit der stellvertretenden Repräsentation von Affekten im Film währte
jedoch nicht lange. Während die Frau mit der Waffe im deutschen Kino der Zwanziger-
jahre noch ihren fixen Platz hatte, machte der Nationalsozialismus mit solch manifes-
ter Ambivalenz Schluss und gewährte der verführerischen Femme fatale, dem Vamp,
kaum mehr einen Ort. Im nationalsozialistischen Film wurde außerdem das „Jüdi-
sche“ so gut wie ausschließlich an männlichen Figuren festgemacht , wahrscheinlich
auch zu dem Zweck, die Darstellung des Weiblichen durchgängig in die Vorstellung
vom „Völkischen“ einzubetten. Motiv der Verbannung des weiblichen Vamps von der
Kinoleinwand war, der sexuellen Ambivalenz keine Ausdrucksmöglichkeit mehr zu
bieten, die weniger normierte Lust zu bannen und sie stattdessen einzubinden in die
Konformität. Es war die Aura, welche die Frau als Vamp umgab, das betörende Inein-
andergreifen von Nähe und Ferne, von Fremdheit und Vertrautheit, welche bewirkte,
dass sie gerade aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung als Außenseiterin und durch
die offen misogyne und antisemitische Lebenswelt hindurch eine Ahnung von der
Möglichkeit der Befreiung anzeigten. Dem Kinopublikum war dies freilich nicht be-
wusst, auch war es von den meisten Filmproduzenten so nicht geplant. Gerade diese
Nicht-Intention wirkte auf tiefere Schichten des Unbewussten umso heftiger und
verzauberte die KinobesucherInnen auf unnachahmliche Weise. Damit machte die
nationalsozialistische Propagandamaschinerie Schluss, die gewitzigt genug war, um
den Zauber und seine Wirkung zu durchschauen, wie Hans Mayer zusammenfassend
darlegt : „Es zeugte vom hohen Niveau der ideologischen Marktforschung im Reichs-
propagandaministerium, daß man die weiblichen Außenseiter aus dem Kino vertrieb :
die Bergner, die Garbo, besonders die sündige Verderberin Marlene Dietrich. Keine
Frau mit der Waffe, denn die trägt der Mann. Keine Dalila, denn sie bedeutet die
Fremde und den Verrat. Der Film des Dritten Reiches kehrte zurück zum Frauen-
typ des Mädchens im Nebenhaus. Man hatte auch erotisch innerhalb der autarken
Volksgemeinschaft zu träumen.“ Dass noch pejorativen und bösen Bildern ein Mo-
ment innewohnt, das sich schließlich gegen sie selber kehrt, lässt sich rückblickend
vielleicht für manche der hier behandelten, mit antisemitisch-misogynen Stereotypen
überfrachteten Imagines behaupten. Dieses Moment jedoch lebt nur in der Zwei-
deutigkeit, welche die Ahnung der Falschheit des Bildes durchblitzen lässt. In solchen
Momenten blickt, um mit Walter Benjamin zu sprechen, der Zeitgeist sich selbst
ins Gesicht und erschrickt dabei. Solch immanentes Erschrecken, in dem Wahrheit
durchscheint, wird vom Nationalsozialismus, dem Schrecken schlechthin, zusammen
mit der Zweideutigkeit ausgemerzt.
Ich danke Frank Stern für diesen Hinweis.
Mayer, Außenseiter, S. 145.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519