Seite - 263 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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„Being different where being different was definitely not good“
Umbruch weiblicher Rollendefinitionen ist auch in den Lebenserinnerungen jüdi-
scher Frauen spürbar. Während sich die Mütter der in den Jahrzehnten vor der Jahr-
hundertwende geborenen Frauen noch vorwiegend ihren Tätigkeiten als Repräsen-
tantinnen des bürgerlichen Haushalts widmeten, begannen ihre Töchter bereits den
vorgeschriebenen Rahmen einer höheren Tochter zu sprengen. Bürgerliche Frauen
entfalteten ihre ersten beruflichen Tätigkeiten im Rahmen philanthropischer Betäti-
gung, um sich auf diesem Wege nach und nach ein neues Berufsfeld zu erobern. Mit
der Gründung der ersten höheren Mädchenschulen und der Öffnung der Universität
für Frauen im Jahre 1897 erfuhr das Spektrum weiblicher Lebensgestaltung eine radi-
kale Erweiterung. Diese Veränderungen spiegeln sich auch in den unterschiedlichen
Frauengenerationen wider. Es mag in diesem Zusammenhang nicht erstaunen, dass
die Ausverhandlung von Geschlechtsrollen vor allem in den Lebenserinnerungen von
Frauen, die im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert geboren wurden, ein bedeu-
tendes Narrativ darstellte. Spätere Generationen – vor allem jene, die um und nach
dem Ersten Weltkrieg geboren wurden – konnten bereits auf weibliche Rollenmodelle
zurückgreifen und agierten demnach mit zunehmend größerem Selbstverständnis in
vormals Männern vorbehaltenen Bereichen.
Antisemitismus und Antifeminismus
Antisemitismus und Misogynie waren vor allem im Wien des Fin de Siècle stark prä-
sent, wobei es sich in beiden Fällen um Phänomene handelte, die sich gegen emanzi-
patorische Bestrebungen von bislang politisch vernachlässigten Bevölkerungsgruppen
– Juden und Frauen – richteten. Wie im Folgenden noch gezeigt wird, hatte diese
Konstellation der doppelten Ausgrenzung nicht zu unterschätzende Auswirkungen
auf die Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen.
Shulamit Volkov wies darauf hin, dass Antisemitismus und Antifeminismus –
ebenso wie der Widerstand gegen diese Bewegungen aufseiten der Emanzipationsbe-
fürworter – gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr zum kulturellen
Code wurden, der die Zugehörigkeit zu einem bestimmten gesellschaftspolitischen
Lager kennzeichnete. 0 Beide Bewegungen waren nicht nur durch programmatisch-
strukturelle Ähnlichkeiten verbunden, sondern wiesen zum Teil auch personell und
organisatorisch Überschneidungen auf. Der für seine antisemitischen Tendenzen
0 Shulamit Volkov, Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays, München 2001, S. 62–81.
Siehe dazu auch : Ute Planert, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und Mentali-
täten, Göttingen 1998, S. 17, S. 82f.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519