Seite - 272 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Michaela Raggam-Blesch
In einigen wenigen autobiografischen Texten integrierter jüdischer Frauen kommt
indessen auch eine gewisse Vorsicht im Hinblick auf Verhaltensweisen zum Ausdruck,
die als „jüdisch“ assoziiert wurden und mit den Vorstellungen über Ostjuden korre-
lierten, wie zum Beispiel auffallendes Gestikulieren oder das als unzivilisiert emp-
fundene laute Sprechen. Die Historikerin Gerda Lerner, die 1920 in Wien geboren
wurde, beschreibt ihre Familie als liberal und assimiliert, wobei diese gleichzeitig auch
die religiösen Feiertage im Jahreskreis beging. Gerda, die mit Goethe und Schiller
aufwuchs und sich mit deutschen Bildungsidealen identifizierte, fühlte sich trotz des
integrierten Milieus von der Umwelt nicht als gleichwertig angenommen. („Being
different in a world where being different was definitely not good“.) Dieses Gefühl
der Andersartigkeit wurde noch durch die Vorsicht ihres Vaters verstärkt, der dazu
aufrief, nicht durch ein Verhalten aufzufallen, das von der Umwelt als „jüdisch“ defi-
niert wurde : „When we went on summer vacations in the beautiful mountain resorts
of Austria, my father impressed us with the need not to ,act Jewish‘, that is, we were
not to speak with our hands, not to raise our voices, not to be noisy or too lively or
too inquisitive. The message again backfired – it told me we were outsiders and ought
to try to hide our deviant, disgraceful status as best as we could.“ 0
Die Mehrheit der als westjüdisch definierten Frauen gab hingegen an, vollkommen
integriert gelebt zu haben und antisemitische Tendenzen erst mit der nationalsozia-
listischen Machtübernahme wahrgenommen zu haben. In diesem Zusammenhang
können die Erinnerungen der 1904 geborenen Hilde Koplenig als exemplarisch gel-
ten : „Und wie war es mit dem Antisemitismus ? Sahen wir sein Erstarken nicht ? Wir
sahen es, aber wir nahmen es nicht ernst. Dazu kam der Unterschied, um nicht zu
sagen Gegensatz zwischen den assimilierten Wiener Juden und den aus dem Osten
Zugewanderten. Ich für meine Person kann sagen, dass ich kaum etwas von Anti-
semitismus gespürt habe, wahrscheinlich weil ich meist unter Juden war, und weil
ich den latenten Antisemitismus der wohl in allen unteren Organisationen beider
Arbeiterparteien herrschte, für Antiintellektualismus hielt und mich darüber erha-
ben fühlte.“ Interessanterweise bringt die Autorin in diesem Zitat das Bewusstsein
gegenüber antisemitischen Tendenzen mit der unterschiedlichen Verortung zwischen
Ost und West in Zusammenhang, wobei dadurch vor allem die Differenz zwischen
beiden Milieus zum Ausdruck kommt. Der „Anschluss“ ans nationalsozialistische
Deutschland im März 1938 wurde aus diesem Grund in einer Reihe von Lebenserin-
nerungen mit dem Narrativ des „bösen Erwachens“ charakterisiert. Die 1906 in Wien
0 Lerner, Why History Matters, S. 5.
Siehe dazu : Raggam-Blesch, Zwischen Ost und West, S. 230f.
Koplenig, Erinnerungen, S. 52.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519