Seite - 326 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Hanno Loewy
Während Lukács schon im September die Flucht nach Wien gelingt, halten sich
Balázs und Anna Schlamadinger, seine zweite Frau, teils gemeinsam, teils getrennt
voneinander, noch drei Monate länger in wechselnden Verstecken in Budapest ver-
borgen. Auf einem Schiff versteckt, fliehen auch sie schließlich im November auf
der Donau nach Wien – mit dem Pass seines ungeliebten Bruders Ervin : „maskiert
mit Backenbart, gefärbtem Schnurrbart und Augenbrauen, das Haar geglättet (mit
dem Zwicker auf der Nase hatte ich eine abscheuliche, jüdische Vertreter-Visage).
Ist es nicht traurig, daß man das aus mir mit Schminke machen kann ? Vielleicht
doch leicht decouvrierend ? Wenn auch nicht für mich, doch für die Rasse“ , notiert
der innerlich tief verletzte Flüchtling in sein neues Tagebuch. Aus dem „ungarischen
Dichter“ ist ein politischer (und, was Balázs genauso wenig sein will wie ein Feuille-
tonist : ein jüdischer) Emigrant geworden.
Balázs und Anna werden in Wien von Edith Hajós, Balázs’ Frau in erster Ehe, be-
grüßt. Edith, mittlerweile Mitglied der kPDsu, ist aus Moskau gesandt, um mit den
geflohenen kommunistischen Führern aus Budapest Kontakt aufzunehmen. Viele
Angehörige von Balázs’ und Lukács’ Bekanntenkreis sind mittlerweile in Wien einge-
troffen, darunter mit Karl Mannheim, Julia Láng und Balázs’ liebster Gesprächspart-
nerin Anna Lesznai, der Märchenerzählerin und Künstlerin, auch viele Teilnehmer
des Budapester Sonntagskreises, der 1921 in Wien sporadisch wieder auflebt.
Doch anders als Lukács nimmt Balázs in Wien an der illegalen Parteiarbeit, an
den Rankünen und Rivalitäten der verschiedenen kommunistischen Fraktionen in
der Emigration nicht mehr teil. Seine Distanz zu Lukács wird umso größer, als Balázs
versucht, im Wiener Kulturleben Fuß zu fassen – während Lukács sich mit seiner gan-
zen Existenz der Partei und ihrem Kampf um die Weltrevolution verschreibt. Balázs
skizziert ernüchtert seine Wiederbegegnung mit Lukács : „Er bietet einen herzzerrei-
ßenden Anblick ; totenblaß, mit eingefallenen Wangen, nervös und traurig. Man be-
obachtet ihn, man spürt ihm nach, er geht mit einem Revolver in der Tasche herum,
da er Grund hat anzunehmen, daß man ihn gewaltsam entführen will. In Pest wird
er des Mordes in neun Fällen und der Anstiftung zum Aufruhr beschuldigt, und sie
haben einen Beleg in der Hand. Hier dagegen befaßt er sich mit hoffnungsloser
konspirativer Parteiarbeit, verfolgt die Spur veruntreuter Parteigelder, und sein philo-
Mit Anna Lesznais Hilfe taucht Balázs zunächst in einem katholischen Priesterseminar unter. Danach
dienen wechselnde Privatwohnungen von Bekannten als Versteck.
Béla Balázs, Napló 1914–1922 (Tagebuch 1914–1922), Redaktion Anna Fábri, Budapest 1982, zitiert
nach einer Übersetzung von Anna Bak-Gara, S. 347. Eintrag vom 4.12.1919.
Gemeint war die Erschießung von Poroszló, wo Lukács als Politkommissar der Fünften ungarischen Di-
vision acht Rotarmisten eines Bataillons exekutieren ließ, das dem rumänischen Angriff auf Tiszafüred
keinen Widerstand entgegengesetzt hätte.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519