Seite - 329 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Vom Schielen der Sinne
Bei all diesen Leichtfertigkeiten lässt Balázs die Frage nach seiner Zugehörigkeit
nicht los.
Balázs fühlt sich gewaltsam aus dem „Ungartum“ ausgestoßen und fragt : „Was
macht sie zu besseren Ungarn, als wir es sind. […] Die Theiß fließt mitten durch mein
Herz, und ich bin ein ungarischer Dichter, aber die Husaren mit den Adlerfedern am
Tschako suchen mich auf den Tod und sie verjagen mich aus dem Land […].“ Und
er kann sich nicht darüber beruhigen, dass nun die hohlen Phrasen des Nationalis-
mus und die Interessen der „Herren“ darüber entscheiden, was ungarisch ist und was
nicht. „Habe ich mich nicht in das ungarische Volksmärchen versenkt, nicht selbst
‚ungarische Volkslieder‘ geschrieben und nicht das Fluidum der Szekler Balladen zum
ungarischen Dramenstil überhaupt machen wollen ?“ Er bleibt hin- und hergerissen
zwischen dem Schmerz, den ihm diese „Ausstoßung“ bereitet, und dem Gefühl, seine
Bestimmung gefunden zu haben. „Die Frage ist : bin ich, als ich in die Fremde lief,
verbannt worden, oder bin ich zu Hause angekommen ?“ Da ist keine Rede von
einer baldigen Rückkehr, von einem zu bestehenden Kampf, von einer Wendung
des Schicksals. Balázs weidet sich in diesem Schmerz und stilisiert ihn zu seiner Pas-
sion. Seine Ideologie der „Seelenwanderung“ bietet ihm einen Halt und zugleich eine
Möglichkeit, sein Judentum zu universalisieren. „Es gibt nur eins zu bedenken : daß
mir, ,dem Wanderer, dem Fremden, dem jüdischen Europäer‘, das sehr weh tut. […]
Ich bin kein Ungar, in mir erwachen keine Rasseninstinkte. Doch auf der Straße der
Seelenwanderung bin ich an ihnen vorbeigegangen, und ich habe mich mit meinem
ganzen Herzen zu ihnen gesellt, ich bekannte mich zu ihrer Sprache, ihrer Kleidung,
zu ihrer Sache und habe sie sehr geliebt. (Nicht die ungarischen Herren, sondern das
Ungarische, dieses undefinierbare Etwas, was in Adys Gesängen und in den Kuruzen-
liedern glüht.)“
Die Fremdheit, die Wanderung durch einen Kosmos der Distanz, indem er sich
nur als Gast, als Bote einer anderen Welt versteht, wird von Balázs nun vollends zu
seiner bewusst angenommenen Existenzform erhoben. Und sie wird zum Thema einer
Im gleichen Jahr veröffentlichte Karin Michaelis, ohne dass Balázs es erfuhr, den Roman in Dänemark
allein unter ihrem Namen : Karin Michaelis, 30 Tage Laan (30 Tage ausgeliehen), Kopenhagen 1920. Die
geplante deutsche Ausgabe hingegen erscheint nie, obwohl Balázs seinen Teil ursprünglich auf Deutsch
geschrieben hatte. Balázs erfährt offenbar erst 1922 von der dänischen Ausgabe, als Michaelis ihn mit
Geldzahlungen davon abhalten will, sich noch um eine deutsche Ausgabe zu bemühen (die beide Auto-
ren genannt und Michaelis’ Betrug aufgedeckt hätte). Balázs’ Manuskript ist erhalten und befindet sich
im Nachlass, mta, Ms 5010/4.
Balázs, Napló 1914–1922, S. 346. Eintrag vom 4.12.1919.
Ebd., S. 359.
Ebd., S. 358.
Ebd., S. 360.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519