Seite - 331 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Vom Schielen der Sinne 1
zu Aquarellen ihrer Freundin Mariette Lydis. Im Oktober schreibt Balázs sechzehn
Märchen, „leicht wie im Flug. In einer Vorahnung von Meisterschaft, im glücklichen
reichen Herbst. Es war ein vergnügliches Spiel. Schöne Frauen haben mir dabei ge-
holfen und auch der Kaffee und der Schnaps, mit dem ich mich (wegen der Eile)
ausnahmsweise stimulierte.“
Zu dieser Zeit hat Balázs schon begonnen, sich an Film-Szenarien zu versuchen. So
wie er zuvor mit unterschiedlichem Erfolg Opern-Libretti, Pantomimen, Tanz-Dra-
men und Schattenspiele geschrieben hat, sucht er im Film zunächst nur eine neue,
volkstümliche dramatische Form. Doch schließlich entdeckte er darin mehr : ein Me-
dium, das seiner Sehnsucht nach einer pansymbolischen visuellen Ästhetik alle Mög-
lichkeiten auf einmal bot, praktisch und theoretisch, ästhetisch und ideologisch.
Ende 1921, nach der rauschhaften Arbeit an den chinesischen Märchen und ein
paar Tagen der Erholung in Reichenau, tritt der Film durch einen Zufall erneut an
Balázs heran, und er wird ihn nun nicht mehr loslassen. Karl Polányi vermittelt ein
Filmprojekt an ihn. Balázs soll ein Drehbuch überarbeiten, zu einem Film über den
kläglich gescheiterten Putsch des Karl von Habsburg, der 1921 versucht hatte, auf
den ungarischen Thron zurückzukehren. Er betrachtet das Schreiben für den Film
zunächst vor allem als Broterwerb, sucht Kontakte in der Filmbranche, hält sich im
Café Filmhof auf, wo Regisseure, Autoren und Produzenten sich treffen, und hat
endlich das Geld, sich eine Schreibmaschine zu kaufen. Er ist überrascht, wie leicht,
wie mühelos die „Nebenbegabung“ sich realisiert : „erstaunlich, wie gut ich solch Ein-
fältiges erzählen und in Bildern denken kann“. Eine hohe Meinung vom Film und
seiner eigenen Gelegenheitsarbeit hat Balázs noch keineswegs. Die Auftragsarbeit der
chinesischen Märchen aber stand so unmittelbar an der Schwelle von Balázs’ fast
beiläufigem Schritt zum Filmautor. Und jenes Märchen, das dem Band, der 1922
erschien, den Titel gab, liest sich wie der poetische Entwurf zu Balázs’ Ästhetik des
Kinos : „Der Mantel der Träume“.
Wie der Zufall es will, Balázs’ Schreiben über den Film führt ihn schließlich auch
in den Feuilleton.
1921, im selben Jahr, in dem Balázs den „Mantel der Träume“ ausbreitete, schrieb
Hugo von Hofmannsthal über das Kino, es sei „der Ersatz für die Träume“. Der
Film reiße das Publikum mit sich in die dunklen Räume der Kindheit, in jene „dunkle
Region, in die kein geschriebenes und gesprochenes Wort hinabdringt – auf dem Film
Balázs, Napló 1914–1922, S. 494.
Ebd., S. 503.
Béla Balázs, Der Mantel der Träume. Chinesische Novellen, München 1922.
Hugo von Hofmannsthal, „Der Ersatz für die Träume“, in : ders., Die Berührung der Sphären, Berlin
1931, S. 263–268, zuerst in : Neue Freie Presse, 27.3.1921.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519