Seite - 334 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Hanno Loewy
gen. Balázs jedoch arbeitete noch mehr als ein Jahr, bis zum April 1926 für das
Feuilleton der Zeitung.
Sichtbares und Unsichtbares
Schon in den Jahren zuvor schrieb Balázs freilich nicht nur über Film : Neben einzel-
nen Theater- und Literaturkritiken sind es vor allem seine Feuilletons, mit denen er
sich in Wien eine treue Leserschaft schuf. Balázs schrieb über Kunst und Theater, über
Maskenspiele und Puppen, über das Schielen der Sinne und die Magie des Weih-
nachtsbaumes, die Kunst des Grüßens und die Widersprüche der Anthroposophie,
über die Dauer einer Sekunde und über das „Weit-weg-Sein“, über das Radiodrama
und über das Verhältnis von Gleichnis und Metapher, über Nackttanz und Wahn-
sinn, über das „indirekte Wien“ und über das drahtlose Chaos, über türkischen Na-
tionalismus und über zionistische Juden unterwegs nach Palästina, die ihm auf einer
Schiffsreise nach Konstantinopel begegnen. Nun war Balázs doch noch – ein „Feuil-
letonist“ geworden.
Lukács warf ihm später einmal vor, in einer unerbittlichen Abrechnung im Januar
1940 in Moskau, Balázs habe in dieser Zeit „nichts Anderes“ als „metaphysisch-aes-
thetische Verklärung der Ruhebedürfnisse der Bourgeoisie“ zu Papier gebracht. Und
doch gehören Balázs’ fast vergessene Wiener Feuilletons zum Schönsten, was in die-
sem Genre je geschaffen wurde : Reflexionen über die tägliche Entstehung der Welt
aus dem Taumel unserer Sinne.
Balázs erweckt in seinen Feuilletons auch die Form des Dialogs wieder zum Le-
ben, die schon Lukács mehr als zehn Jahre zuvor (so in seinen später fast verleugne-
ten Essays in Die Seele und Die Formen) als Kunst der Aporie gepflegt hatte. Zielten
jedoch Lukács’ Aporien letztlich aufs Ganze eines Systems, so spielt Balázs mit den
Zwischenräumen der Potentialität, jener „Indeterminiertheit“ des Menschen, über
die er schon Bergson in Paris gehört hatte. „Bewußtsein nennt man es gewöhnlich“,
Sigmund Bosel hatte gerade 50 % der Aktien des Zeitungsverlags an den im Besitz der Tschechischen
Regierung befindlichen Orbis-Verlag in Prag verkauft und machte später, vermutlich aber erst 1926,
bankrott. Kommerzielle Interessen mögen zu diesem Zeitpunkt bei der Zeitung in den Vordergrund
getreten sein.
Georg Lukács an Balázs, 31.1.1940, in : Balázs Béla levelei Lukács Györgyhöz (Briefe von Béla Balázs an
Georg Lukács), hg. von Júlia Lenkei, Budapest : mta Filozófiai Intézet, 1982, S. 185.
Balázs schrieb darüber schon 1913 eine selbstdialogische Reflexion unter dem Titel Dialógus a dialógusról
(Dialog über den Dialog), Budapest : Athenaeum, 1913. Ausschnitte daraus veröffentlichte er 1925 im
Tag unter dem Titel „Ein Gespräch über das Gespräch“.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519