Seite - 339 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Vom Schielen der Sinne
Wie der destruktive Charakter ist auch der Wanderer der ewig Unfertige, der im-
mer schon da ist, solange er nur in Bewegung bleibt. So kann er sich auch an nie-
manden binden. „Er bleibt ja nicht derselbe. Er kann sein Wort halten. Aber das
Wort kann ihn nicht halten.“ Heimat kennt er nur als Sehnsucht nach einem nicht
bekannten Ort. Er ist die Verkörperung der reinen Möglichkeit, die sich in alle Rich-
tungen Bahn verschafft. Doch nicht indem er zerstört, sondern indem er zwischen
den Dingen immer genug Platz findet, um schwerelos hindurchzuschlüpfen. Wie die
Helden der Märchen und wie das schwebende Auge des ungarischen Märchenerzäh-
lers, von dem Gyula Ortutay berichtet, wie der Anfang des Märchens vom Königs-
sohn, der unsterblich sein wollte : „irgendwo, siebenmal sieben Länder weit und noch
weiter, jenseits des großen Meeres, hinter einem alten Herd in der Mauerspalte, in
der Muhme Rockes siebenundsiebzigster Falte – ein weißer Floh und in dessen Mitte
eine prächtige Königsstadt.“ 9
In seinen Essays über das Reisen beschreibt Balázs die verschiedenen Räume, in
denen sich „die Seele wachsend dehnt“ 0, Räume, die der Mensch sich anverwandelt,
die er als Ausdehnung des eigenen Selbst erfahren kann, Räume, die nicht nur gehört
oder gesehen werden, sondern in denen sich das Selbst aufzulösen glaubt. Ob er auf
dem Rücken liegend in einem Boot dahintreibt oder in die Nacht hineinlauscht : Es
geht darum, sich in ein Medium zu verlieren. „In der Stille höre ich so weit und das
Leben streckt und dehnt sich in mir. Denn so weit ich höre, gehört der Raum zu mir,
wird mein Raum.“
Die höchste Steigerung dieser Fantasie der Verschmelzung mit dem Raum findet
sich am Ende in der Utopie einer Allmacht verleihenden Blindheit, einer Beschleu-
nigung über die Grenzen unserer Wahrnehmung hinaus. Balázs führt das Beispiel
von Insekten an, deren „Sichtkreis so beschaffen ist, daß sie mit einem Flügelschlag
über ihren Horizont hinausfliegen. Jede ihrer Bewegungen ist ein Sturz ins Unge-
wisse.“ Diese Blindheit des unbedingten Vertrauens, des Sich-Hineinfallen-Las-
sens in den Kosmos ist ihm das „Wunderbare […] Lebensgefühl des ewigen Aben-
teuers“ schlechthin. Und er gebraucht ein Bild dafür, das erst im Zusammenhang
mit seiner Filmtheorie verständlich werden wird : „Denn die Umgebung, die wir
sehen können, wäre nur wie auf die Innenseite unserer geschlossenen Augenlider
gemalt. Ein neues Sich-Anvertrauen dem Unbekannten müßte entstehen. Vielleicht
Ebd., S. 13.
Gyula Ortutay, Ungarische Volksmärchen, Berlin 1957, S. 73.
0 Balázs, Der Phantasie-Reiseführer, S. 64.
Ebd.
Ebd., S. 99.
Ebd., S. 100.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519