Seite - 340 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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0 Hanno Loewy
würden auch unsere Gesichter dann so schön werden, wie die Gesichter der Blin-
den ?“
Auch die Rolle des Feuilletonisten, die Balázs mehr zugefallen war, als dass er sie
gesucht hätte, konnte nicht mehr sein als ein Übergang.
Am 7. April 1926 erscheint seine letzte Theaterkritik in der Zeitung Der Tag, der
Verriss eines Stückes von Romain Rolland über die französische Revolution als „Ge-
sinnungskitsch“. Balázs bezieht einen offen radikalen Standpunkt, gegen die im Stück
gefeierten Girondisten zugunsten des revolutionären Proletariats, das Rolland als „Ka-
barettkarikaturen und tierisches Gesindel“ dargestellt habe. Anna Balázs behauptete
später, Balázs sei „Wegen der Beschwerdebriefe empörter Kapitalisten“ gekündigt
worden. Doch Balázs’ Abgang erfolgte ohne jeden offen ausgetragenen Konflikt. Er
bekam sein Jahresgehalt ausbezahlt, und schon vier Tage später, am 11. April, Ge-
legenheit, sich bei seinen Lesern in seinem letzten Sonntagsfeuilleton „Unbekannte
Freunde“ zu verabschieden.
Balázs erinnert sich daran, wie er vor vielen Jahren, als junger Mensch in die
Großstadt gekommen, einen Liebesbrief aus dem Fenster geworfen hatte, roman-
tisch träumend und ein Gefühl der Allverbundenheit suchend : „Damals erlebte ich
es, was es heißt, irgendwo zu Hause zu sein. Nicht : viele Freunde zu haben, sondern
viele Freunde – nicht zu haben, indem man keinen Gebrauch von ihnen machen
kann. Aber zu wissen, daß sie da sind, wenn auch nicht bei der Hand, und daß dort,
wo das Bekannte aufhört, darum noch nicht das Fremde beginnt. […] Nun habe
ich in einer Stadt drei Jahre lang zu einem Fenster hinausgeschrieben und fühlte
mich unter unbekannten Freunden zu Hause. Nur jetzt, wo ich weiterziehen muß,
geht mir etwas ab. Schade, daß man nicht Abschied nehmen kann. Denn man kann
vielleicht einen Freund haben, ohne ihn zu kennen. Aber kann man von ihm schei-
den, ohne ihn je gekannt zu haben ? War es überhaupt da : was man nicht verlassen
kann ?“ Ob die empathischen, im Nachlass erhaltenen Briefe, die Balázs daraufhin
erhielt, und die die Anonymität seiner Leserschar ein wenig aufhob, ihm den Ab-
schied erleichterten ?
Balázs wird sich jedenfalls kaum zwischen dem 7. und 11. April entschlossen ha-
ben, Wien zu verlassen. Wie lange seine Übersiedelung nach Berlin schon geplant
war, ob er den revolutionären Ton seiner letzten Kritik mit Bedacht gewählt hatte,
um sich einen guten Abgang zu verschaffen, oder tatsächlich ein Konflikt um seinen
Ebd.
Béla Balázs, „Ein Spiel von Tod und Liebe“, in : Der Tag, 7.4.1926.
Erinnerungen von Anna Balázs, zit. nach Diederichs, „Die Wiener Zeit“, S. 40.
Béla Balázs, „Unbekannte Freunde“, in : Der Tag, 11.4.1926.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519