Seite - 344 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Elisabeth Brainin · Samy Teicher
wissenschaftlichen Bewegung war wesentlich höher als in anderen wissenschaftlichen
Bereichen (Margarete Hilferding, Helene Deutsch, Hermine Hugh-Hellmuth, Lou
Andrea Salomé, Marie Bonaparte, Melanie Klein, Anna Freud). Die Psychoanalyse,
als eine junge, noch nicht etablierte Wissenschaft, übte eine große Anziehungskraft
aus. Interessierte, wissbegierige und vorurteilslose Menschen, die es wagten sich über
gesellschaftliche Vorurteile hinwegzusetzen und tradierte Normen zu hinterfragen,
stießen zur Psychoanalyse.
Die Einsamkeit von der Freud über die ersten Jahre der jungen Wissenschaft
schreibt, fand mit der Gründung der WPV 1908 und der Gründung der Internationa-
len Psychoanalytischen Vereinigung (iPV) 1910 ein Ende, die folgenden Jahre brach-
ten Freud und seiner Wissenschaft zunehmende Anerkennung. Die akademische An-
erkennung Freuds erfolgte jedoch zögerlich – er erhielt seine Professur erst siebzehn
Jahre nach Wagner-Jauregg obwohl er sich zur gleichen Zeit darum beworben hatte.
Freud selbst führte dies nicht zuletzt auf den herrschenden Antisemitismus zurück.
Er befürchtete von Anbeginn, dass die Psychoanalyse von ihren Gegnern als eine
„jüdische Wissenschaft“ abgelehnt würde. In seiner „Selbstdarstellung“ schreibt er :
„[…] Ich bin am 6. Mai 1856 zu Freiberg in Mähren geboren […] Meine Eltern
waren Juden, auch ich bin Jude geblieben.“ In „Die Widerstände gegen die Psy-
choanalyse“ im selben Jahr fragt er : „[…] ob nicht seine eigene Persönlichkeit als
Jude, der sein Judentum nie verbergen wollte, an der Antipathie der Umwelt gegen
die Psychoanalyse Anteil gehabt hat. […] Es ist vielleicht auch kein bloßer Zufall,
dass der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu bekennen
brauchte es ein ziemliches Maß an Bereitwilligkeit, das Schicksal der Vereinsamung
in der Opposition auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem Juden vertrauter ist als
einem anderen.“
An zahlreichen Textstellen ist es heute möglich, Freuds Beschäftigung mit seinem
Judentum nachzuzeichnen, und entsprechend viel wurde darüber publiziert. Dies
ist z. B. in seinem Briefwechsel mit Karl Abraham, Sandor Ferenczi oder mit Arnold
Zweig nachzulesen. Viel weniger Beachtung fand jedoch Freuds völlig selbstverständ-
liche Haltung dazu. Ebenso wie Freuds Haltung zur Moral : „Das Moralische versteht
sich ja von selbst“ , ist seine Haltung zum Judentum zu verstehen. So dankt er dem
Wiener Oberrabbiner für einen Gratulationsbrief zu seinem 75. Geburtstag : „Ihre
Sigmund Freud, „Selbstdarstellung“ (1925), in : GW XIV, S. 34.
Sigmund Freud, „Die Widerstände gegen die Psychoanalyse“(1925e), in : GW XIV, S. 110.
Ausführlich referiert sind Freuds Positionen zum Judentum bei Y. H. Yerushalmi, Freuds Moses – End-
liches und unendliches Judentum (1991), Berlin 1992.
Sigmund Freud, „Über Psychotherapie“ (1905a) (Freud zitiert hier Friedrich Theodor Vischer), in : GW
V, S. 25.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519