Seite - 373 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Arthur Schnitzler
Die früheste stammt aus dem Jahr 1883, die letzten hielt er kurz vor seinem Tod fest.
Schnitzler registrierte oder kommentierte zahlreiche politische antisemitische Ver-
stöße – von lokalen antisemitischen Veranstaltungen, Plakaten oder Zeitungsartikeln
über eine verhetzende Predigt des Jesuitenpaters Heinrich Abel bis zur Dreyfus-Af-
färe, angeblichen Ritualmorden in Polna oder Kiew, der Halsmann-Affäre oder der
Diskriminierung jüdischer StudentInnen in Ungarn. 0
Aber auch der privaten Seite innerhalb des breit gefächerten antisemitischen Spek-
trums widmete er immer wieder seine Aufmerksamkeit. Stellvertretend für eine Viel-
zahl von Notaten, sollen hier einige wenige wörtlich zitiert werden :
„Generalprobe [des Dramas ‚Freiwild‘ von Schnitzler] ; […] Salten : Einer mußte mich neu-
lich in einer Gesellschaft vertheidigen gegen den Vorwurf : ich sei Jude – man lasse sich
offenbar, wenn meine Sachen gefallen, durch den Schein täuschen – denn als Jude könne
ich ja nicht wissen, was in der Seele einer Wienerin vorgeht. So denken heute 99 % Christen
in Wien.“
„– Neulich sitzt Lili auf der Terrasse ; das kleine 4j. Gärtnermädl (bisher nie gesprochen) von
nebenan fragt sie durchs Gitter : Nicht wahr, du bist eine Jüdin ? – Lili. Ja : Warum fragst du.
– Das Mädl : – Weil du schöne Kleider hast … Nur die Juden haben schöne Kleider –“
„Ch. [Joseph Chapiro] hat heute in München erlebt – daß er einen eleganten Herrn
nach der Synagoge fragte – worauf dieser sagte ‚Verflucht‘ und vor ihm ausspuckte. –“
Schnitzler beleuchtet das Phänomen Antisemitismus in seiner Gesamtheit und hält
die Äußerungen manchmal ausdrücklich zur Charakteristik seiner Zeit fest. Die kon-
tinuierlichen Aufzeichnungen sind aber auch Ausdruck seiner Verletzbarkeit. Sie spie-
geln einen Lebenszustand der ständigen Hellhörigkeit, ständigen Alarmbereitschaft,
der sich immer wieder als begründet erweist.
0 Schnitzlers Interesse gepaart mit der Tatsache, dass er in einen großen Bekanntenkreis eingebunden
war, der sich sehr bewusst mit der jüdischen Problematik auseinandersetzte, bilden die Voraussetzung
für die Niederschrift weit gestreuter Beobachtungen zum Thema öffentlicher Antisemitismus. Sie um-
fassen ein enormes zeitliches, geografisches und inhaltliches Spektrum. Dass die Tagebücher und Briefe
jedoch keinen repräsentativen Überblick über die wichtigsten antisemitischen Ereignisse der damaligen
Zeit bieten, wird deutlich, wenn man das Augenmerk auf zwei der aufsehenerregendsten Vorkommnisse
lenkt, die bei Schnitzler keinerlei Widerhall finden. Weder der Mord an Hugo Bettauer, des Verfassers
des Romans Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen, der ihm sogar persönlich bekannt war,
oder die Ausschreitungen um den 14. Zionistischen Weltkongress, der im August 1925 in Wien abge-
halten wurde, werden erwähnt.
Schnitzler, Tagebuch 1893–1902, 3.2.1898.
Ebd., 15.7.1918.
Ebd., 5.8.1922.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519