Seite - 374 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Bettina Riedmann
1918 beispielsweise mehrten sich die Hinweise darauf, dass es auch in Wien zu
Ausschreitungen gegen jüdische Bürger kommen könnte. Immer wieder wurden Ge-
rüchte lanciert, wonach die Plünderung jüdischer Häuser im XViii. Bezirk unmittel-
bar bevorstünde, und am 18. November 1918 vermerkt Schnitzler beispielsweise :
„Die Ostd. Rundschau fordert ungescheut zu Pogroms in Wien auf. – Unglückseliges
rettungsloses Land.“ Seine Frau Olga hatte kurz zuvor die Silbersachen auf den
Dachboden gebracht. Schnitzler schwankte in seiner Einschätzung der Lage, ent-
schloss sich aber immerhin dazu, sich auf der Botschaft eine Grenzempfehlung aus-
stellen zu lassen, „für alle Fälle“ , wie er vermerkt.
Als 1922 im böhmischen Teplitz seine Lesung durch von ihm als „Hakenkreuzler“
bezeichnete Demonstranten gestört wurde, musste er schließlich aus dem Vortrags-
saal fliehen und sah sich sogar physisch bedroht : „Ich beschaute mir die Gesichter der
Skandalmacher, sie erschienen mir wohlbekannt. Vor mehr als dreißig Jahren habe
ich genau die gleichen gesehen, als im medizinischen Unterstützungsverein die ersten
antisemitischen Vorstöße erfolgten ; – Komparserie der Weltgeschichte […] Nur das
Rabarber, das sie rufen, wechselt. Und auch die Gummiknüttel sind eine Konzession
an den Fortschritt der Zeit.“
Schnitzler spannt also einen Bogen von seinen ersten Erfahrungen in den Acht-
zigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts zu Tumulten in den frühen Zwanziger-
jahren des vorigen Jahrhunderts. Auch wenn er in diesem Brief an Heinrich Mann
seine Abgeklärtheit zur Schau stellt, so verrät die minutiöse Schilderung der Teplitzer
Ereignisse in seinem Tagebuch, dass er keineswegs unberührt blieb. Und in einem
Schreiben an seine geschiedene Frau beurteilt er den Vorfall in Böhmen treffender :
„Die Sache ist für mich belanglos, aber symptomatisch von Bedeutung.“
Kehren wir zurück zu dem eingangs zitierten Brief an Meyerhof-Hildeck und legen
das Augenmerk auf den Zeitpunkt, zu dem er entstand. Dies war im Dezember 1908,
also Ende jenes Jahres, in dem sein erster Roman, Der Weg ins Freie, erschienen war,
der sowohl für Schnitzler als auch für sein Lesepublikum in mehrerlei Hinsicht ein
Novum darstellt. Er kann insofern als sein persönlichstes Werk bezeichnet werden,
als er in diesem Roman einerseits zahlreichen Personen aus seinem Freundes- und Be-
kanntenkreis ein Denkmal setzte, indem er sie zu Vorbildern für seine ProtagonistIn-
nen machte, und andrerseits seine eigenen Gedanken und Erfahrungen auf Figuren im
Ebd., 18.11.1918.
Ebd., 30.10.1918.
Ebd., 20.8.1918.
Arthur Schnitzler, Briefe Bd. 2 : 1913–1931, hg. v. Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne
Pertlik und Heinrich Schnitzler, Frankfurt am Main 1984, S. 297, 28.12.1922 (an Heinrich Mann).
Ebd., S. 293, 4.11.1922 (an Olga Schnitzler).
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519