Seite - 375 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Arthur Schnitzler
Roman projizierte – nämlich auf jene des Heinrich Bermann und Georg von Wergen-
thins. Er ist außerdem jenes Werk, in dem Schnitzler erstmals den Themen Judentum
und Antisemitismus einen zentralen Stellenwert einräumte. Dies bedeutete auch, dass
er nun einem breiten Publikum seine Zugehörigkeit zum Judentum offenbarte. Auch
wenn der Großteil zumindest der Wiener Leserschaft mit Sicherheit bereits mit dieser
Tatsache vertraut war, so stellte die Veröffentlichung dieses Romans doch ein bewusstes
„Coming-Out“ als Schriftsteller jüdischer Herkunft dar. Ebenso wie seine Frau Olga,
die vor Erscheinen prophezeite, dass die „Judenstellen“ „einschlagen [würden] wie eine
Bombe“ 9, war sich Schnitzler darüber im Klaren, dass diese Passagen große Spreng-
kraft besaßen und dass er sich der Kritik von verschiedensten Seiten aussetzen würde.
Das Etikett „Jude“, das ihm als Schriftsteller vor 1908 gelegentlich und meist mit
negativen Absichten angeheftet worden war, wurde nun zum stets sichtbaren Beglei-
ter und ließ sich nicht mehr ablegen. Nun galt auch für den beruflichen Bereich, was
er für seinen privaten Umgang schon lange konstatiert hatte. In seiner Autobiografie,
die er 1915 zu schreiben begann, bemerkt er : „Es war nicht möglich, insbesondere für
einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, davon abzusehen, daß er Jude war, da
die andern es nicht taten, die Christen nicht und die Juden noch weniger. Man hatte
die Wahl, für unempfindlich, zudringlich, frech oder für schüchtern, verfolgungs-
wahnsinnig zu gelten. Und auch wenn man seine innere und äußere Haltung so weit
bewahrte, daß man weder das eine noch das andere zeigte, ganz unberührt zu bleiben
war so unmöglich, als etwa ein Mensch gleichgültig bleiben könnte, der sich zwar die
Haut anaesthesieren ließ, aber mit wachen und offenen Augen zusehen muß, wie un-
reine Messer sie ritzen, ja schneiden, bis das Blut kommt.“ 0
Dass die allgegenwärtige Kategorisierung in jüdisch und nichtjüdisch bei Schnitzler
trotz seiner grundsätzlich positiven Haltung zum eigenen Judentum manchmal das
Bedürfnis hervorrief, sich nicht ständig als Jude bekennen, sich als solcher äußern und
als solcher handeln zu müssen und zugleich sowohl von Nichtjuden als auch Juden als
solcher behandelt zu werden, offenbart sich am deutlichsten in folgendem, allerdings
wesentlich früher entstandenen „Geständnis“ : „Warum hab ich eine nicht wegzuleug-
nende leichte Befriedigung, wenn ich dem Kutscher sagen kann : Halten Sie beim
katholischen Friedhof ! Wie tief die Dummheit sitzt. Da ich beschlossen habe, keine
meiner Gemeinheiten und Dummheiten vor mir selbst zu verschweigen, auch diese er-
wähnt. Das einzige, was sie vor mir selber entschuldigt, ist, daß ich alles erkenne. Aber
die leichte Befriedigung über diese Selbsterkenntnis paralysirt wieder ihr gutes.“
Schnitzler, Tagebuch 1903–1908, 23.10.1907.
0 Schnitzler, Jugend in Wien, S. 322.
Schnitzler, Tagebuch 1893–1902, 13.3.1900.
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Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519