Seite - 386 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Wolfgang Müller-Funk
patriarchale Welt des angestammten Judentums abhanden gekommen ist. Dieser Ver-
lust soll durch die Lebensentscheidung des Sohnes rückgängig gemacht werden : dem
dient dessen Reise von Wien nach Galizien, die zugleich eine Reise in eine Erinnerung
ist, um das verloren gegangene ›e‹, das auf ein selbstbestimmtes Judentum verweisen
soll, zurückzugewinnen. Diese Rückbesinnung ist zugleich eine generationsbedingte
Reaktion auf die Assimilation der Väter, die durch den politischen Antisemitismus in
Europa virulent wird. Aber um zu diesem ›e‹ zu gelangen, bedarf es eines zentralen
Elements, das sein Vormund lakonisch benennt : „Glaube“ . In religiösem Zwiespalt
lebt eine ganze Generation jüdischer Intellektueller, Morgenstern wie Roth, und es
bleibt eine quälende Frage, ob bei allem offensiven symbolischen Selbstbehauptungs-
willen jene traditionelle Identitätskonstruktion überhaupt noch möglich ist, in der
die Erfahrung religiöser und kultureller Verlorenheit vergessen werden könnte. Am
Ende des Romans glaubt Alfred zwar, dass er nicht länger ein Gast dieser ostjüdischen
Welt ist („Jetzt gehöre ich in dieses Haus“ ), aber zugleich macht er sich auf die Reise,
nachdem er sich von seiner ukrainischen nichtjüdischen Geliebten Donja – der mas-
sive ukrainische Antisemitismus ist dadurch zugleich ausgeblendet – verabschiedet.
Eines schließt das offene Ende des Romans aus : dass der Neffe in die Fußstapfen des
rechtgläubigen Onkels treten wird. Er will aus dem Gut eine agrarische Lehrschule für
junge Menschen machen, die nach Palästina auswandern wollen. Das Ostjudentum
wird in der Trilogie im Sinne des Hegel’schen Narrativs „aufgehoben“. Durch diese
Beseitigung wie Bewahrung wird eine neue Form jüdischer Identität konstruiert :
Schon vor der Shoah ist der Zionismus ein Identitätsangebot für die Generation von
Jüdinnen und Juden, die zwar „aus der Welt Gottes vertrieben“ – aber doch selbst-
bewusst sind. Das jüdische Gebet, mit dem der Roman endet, nimmt der Protagonist
als Erinnerungsgut, als religiöses Souvenir, mit in seine letztendlich säkulare Welt.
Unübersehbar bleibt jedoch die Differenz zwischen Autor und Protagonist : denn der
Weg des Autors führt nicht, wie es die narrative Konstruktion jüdischer Identität im
Roman nahelegen würde, ins Heilige Land, nach Palästina, sondern in die jüdische
Diaspora – in die Vereinigten Staaten und ins intellektuelle Milieu New Yorks.
Angesichts der erstaunlichen Detailiertheit eines an modernistischen Maßstäben
gemessen ästhetisch traditionell realistischen Werks mag man es bedauern, dass der
Trilogie, erst in den Neunzigerjahren in der norddeutschen Provinz neu aufgelegt,
nicht jene Aufmerksamkeit widerfahren ist, die sie eigentlich verdient – Raphaela
Ingo Schulte, Nachwort des Herausgebers, in : Soma Morgenstern, Funken im Abgrund III : Das Ver-
mächtnis des verlorenen Sohnes, Lüneburg 1996, S. 369.
Morgenstern, Der Funken im Abgrund I, S. 92.
Morgenstern, Der Funken im Abgrund III, S. 342.
Raphaela Kitzmantel, Eine Überfülle an Gegenwart, Wien 2005, S. 153ff.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519