Seite - 396 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Bild der Seite - 396 -
Text der Seite - 396 -
Wolfgang Müller-Funk
Soma Morgensterns bei aller Sympathie und Nähe vollzogene Abgrenzung von
Roth hat damit zu tun, dass sich Roth weigert, die jüdische Karte zu spielen und
sich zu einer eindeutigen Identität zu bekennen. Um dieses Skandalon zu mindern,
greift Morgenstern in seinem Roth-Buch zu psychologisierenden Erklärungsmustern :
diese reichen vom fehlenden Vater, der schwachen Mutter und der nicht gegebenen
Über-Ich-Identifikation über dessen Alkoholismus bis zu seiner Heimatlosigkeit. Aus
diesem Psychogramm eines labilen Menschen erklärt sich für den Freund dessen „As-
similationitis“ .
Den unbändigen Wunsch des heimatlosen „Hybriden“, irgendwo zu Hause zu sein,
spürt man in der Tat auf Schritt und Tritt, gerade im journalistischen Werk : Roths
revolutionäre Wunschfiguren im frühen Russland ; Roths Wille, in den frühen Zwan-
zigerjahren ein guter Deutscher zu sein ; sein Nachruf auf den sozialdemokratischen
deutschen Reichspräsidenten Ebert, der seine späteren Huldigungen an den toten
Kaiser vorwegnimmt. Roths Liebe zu Frankreich und seinem Wunsch, in Frankreich
zu Hause zu sein (14. Juli) oder seiner Trauerrede auf Clemenceau – schließlich die
Entdeckung des österreichischen Kaisers.
Roth ist ein früher Bewohner dessen, was man als „Dritter Raum“ bezeichnet,
der unmögliche Bewohner einer Diaspora, eines Exils. Auffällig, dass Roth schon
im Exil lebte, bevor die Nazis an die Macht gekommen waren. „Hybridität“ ist hier
das passende und unpassende Stichwort unserer Tage : denn der Hybrid der Cultural
Studies verweigert ja jede Anpassungsleistung, jegliche Assimilation und jede Form
eindeutiger ethnischer Identität. Homi K. Bhabha spricht in diesem Zusammenhang
von „den Diskursen von ,Minoritäten‘ innerhalb der geopolitischen Aufteilungen von
Ost und West, Nord und Süd“ : „Sie intervenieren in jene ideologischen Diskurse der
Moderne, die versuchen, der ungleichmäßigen Entwicklung und den differierenden,
oft von Benachteiligung gekennzeichneten Geschichten von Nationen, Ethnien, Ge-
meinschaften und Völkern eine ,hegemoniale‘ Normalität zu verleihen.“
Das Ziel solcher Identifikation ist bei Roth wie bei Bhabha persönlich wie politisch
ein „hybrides“ Gebilde, im Falle Roths ein ästhetisch überformtes multiethnisches
Reich : das hybride Märchenreich, das sich Roth schuf, war eines von oben, die Be-
wohner der Roth’schen Heimatlosigkeit sind der Adel und die Beamten und darunter
jüdische Händler und slawische Mittelschichten. Anders, als es die Verklärung der
Parallelgesellschaften und der Figur des Hybriden in den Cultural Studies will, lesen
Morgenstern, Flucht, S. 31.
Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, aus dem Englischen von Michael Schiffmann und Jürgen
Freudl, Tübingen 2000, S. 55ff.
Ebd., S. 255.
zurück zum
Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519