Seite - 405 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
Bild der Seite - 405 -
Text der Seite - 405 -
Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle 0
Veranstaltung kann als kultureller Zwischenraum verstanden werden, in dem es zur
Begegnung von Juden und Nichtjuden kommt.
Der kulturelle Zwischenraum
Das Konzept des Zwischenraums geht auf den französischen Ethnologen Arnold van
Gennep zurück, der dessen Grundlagen in seinem 1909 erschienenen Werk Les rites
de passage vorgestellt hat. Van Gennep beschreibt darin Gesellschaften als Konglome-
rate unterschiedlicher Gruppierungen. Sie bilden keine abgeschlossenen Einheiten,
sondern nehmen stetig neue Mitglieder auf und verlieren andere. Aktivitäten, die
Gruppenzugehörigkeiten lösen oder neu aufbauen, bezeichnet er als Grenzüberschrei-
tungen. Sie rufen Störungen der gesellschaftlichen Ordnung hervor. Um sie gering zu
halten, werden sie rituell aufgeladen. Dabei lässt sich eine Dreiteilung in Trennungs-,
Schwellen- und Angliederungsphase erkennen.
Der schottisch-amerikanische Anthropologe Victor Turner hat van Genneps Riten-
modell weiterentwickelt und seine Aufmerksamkeit vor allem der Schwellenphase ge-
widmet. Nach ihm unterscheidet sie sich von den beiden anderen Situationen durch
ihre Unbestimmtheit und Ambiguität. In der sogenannten Liminalität befinden sich
Personen außerhalb der normativen Sozialstruktur, die durch Hierarchisierung und
Differenzierung charakterisiert ist, und formen eine davon losgelöste, durch beson-
dere Solidarität geprägte Gemeinschaft, die Turner Communitas nennt. Wesentlich
dabei ist, dass sich nicht voraussagen lässt, ob nach dem Austritt aus der Schwellen-
phase das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Mitgliedern der Communitas er-
halten bleibt oder in sein Gegenteil umschlägt.
Das Kostümfest des Vereins Leopoldstädter Kinderschutz kann meines Erachtens
in Anlehnung an van Gennep und Turner als ein Zwischenraum bezeichnet werden.
Während der Veranstaltung befinden sich die TeilnehmerInnen außerhalb der ge-
wohnten sozialen Welt. Sie sind mit maskierten Gästen konfrontiert, die bisweilen
Figuren repräsentieren, die keinen realen Typen entsprechen, und können unterei-
nander in einer Weise kommunizieren, die in der sogenannten Außenwelt aufgrund
vorherrschender Konventionen nicht möglich wäre. Die Festgäste bilden dadurch
eine Gemeinschaft, die von äußeren Einflüssen weitgehend abgeschirmt ist.
Die partikulare, durch eine Reihe spezifischer Verhaltensstandards geprägte At-
mosphäre der Veranstaltung zeigt sich auch in den widersprüchlichen Umgangsfor-
Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage), 2. Aufl., Frankfurt am Main 1999, S. 21.
Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt am Main 2000, S. 96.
zurück zum
Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519