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Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle 0
jener Charakter zu verkleiden, vor dem man sich fürchtet. Man schlüpft in dessen
Rolle, und durch die „Aneignung“ des Anderen neutralisiert man dessen vermeint-
liche Gefährlichkeit. In Bezug auf das Kostümfest heißt das, dass durch die humor-
volle Gestaltung des Glaubensübertritts das Christentum sein Bedrohungspotential
als Missionierungsinstanz verliert. Juden wird es dadurch möglich, sich ihrer Identität
zu versichern und ihr Jüdischsein gegenüber einem lächerlich erscheinenden Chris-
tentum zu betonen. Dadurch, und das ist der zweite Punkt des Mimesis/Mimikry-
Konzepts, werden die Differenzen zwischen Juden und Nichtjuden wieder gestärkt.
Im Befremden, das Juden wie auch Nichtjuden über die Verkleidung als Christkind
äußern, kommt das Bestreben nach Aufrechterhaltung einer religiösen Distinktion
zum Ausdruck. Beide artikulieren somit einen bestimmten Grad an religiösem Selbst-
bewusstsein.
Antichristliche Tendenzen zu Purim
Am Kostümfest des Vereins Leopoldstädter Kinderschutz lässt sich darstellen, dass die
Ergebnisse eines performativen Ansatzes Interpretationen, die unter einer Akkultu-
rationsperspektive vorgenommen werden, widersprechen können. Gleichzeitig wird
deutlich, dass Judentum trotz seines Konstruktionscharakters als eine soziale Tatsache
wahrgenommen werden muss. Die realitätskonstituierende Funktion von Judentum
zeigte sich bei der Faschingsveranstaltung des Vereins Leopoldstädter Kinderschutz
darin, dass es handlungsanleitend wirkte. Die Verkleidung als Christkind war kein
Fauxpas, der unbeabsichtigt zu Irritationen unter den Festgästen führte, sondern ein
überlegter Akt, der sich aus der jüdischen Purimtradition speiste.
Purim stellt ein jährlich wiederkehrendes Fest dar, zu dessen Anlass Juden ihrer Er-
rettung vor ihrer Vernichtung in der Babylonischen Gefangenschaft gedenken. Nach
der Überlieferung plante Haman, der höchste Regierungsbeamte des persischen Kö-
nigs Xerxes I. (Ahasverus), ihre Ermordung. Letztlich musste er dafür mit seinem
Leben bezahlen.
Im kollektiven Gedächtnis der Juden werden die damit zusammenhängenden Er-
eignisse durch die gottesdienstliche Lesung aus dem Buch Esther wachgehalten. Bei
der Erwähnung von Haman pflegen Juden Lärm zu machen, um die Namensnennung
zu übertönen und den historischen Feind „akustisch“ auszuschalten. In manchen Re-
gionen Europas wurde es üblich, durch Verbrennen seines Bildnisses symbolisch an
ihm Rache zu üben.
Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt am Main 2000, S. 166.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519