Seite - 415 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle 1
Kaufmanns Bilder, so lautet die These, blieben für die Faschingsfeier des Leopold-
städter Frauen-Wohltätigkeitsvereines nicht deswegen unberücksichtigt, weil sie die
Gäste nicht angesprochen hätten, sondern wegen des großen Anklangs, auf den seine
Werke im jüdisch-bürgerlichen Milieu stießen. Die Motive der Bilder waren diesen
Juden und Jüdinnen zu vertraut, als dass sie für eine Faschingsfeier verwendbar ge-
wesen wären, d. h. als dass man sich mit ihnen im Spannungsverhältnis von Nach-
ahmung und Unterminierung auseinandersetzen hätte können. Traditionelle jüdische
Lebensweise mochte zwar eine Alltagsgestaltung darstellen, mit der sie offiziell nicht
in Zusammenhang gebracht werden wollten. Aber gefährlich wirkte jüdische Ortho-
doxie deswegen nicht. Anders war das mit dem Bild von Defregger : Ähnlich wie die
Verkleidung als Christkind, so diente auch die Imitation und Aufführung der Schuh-
plattler der „Aneignung“ des anderen zur Neutralisierung der Bedrohung, die von
ihm vermeintlich oder tatsächlich für Juden ausging. Es handelte sich um ein Spiel
mit ethnischen Identitäten, die durch die Nachahmung ihrer Repräsentationsformen
visualisiert und gleichzeitig entwertet werden sollten.
Die Gefahr, die durch die Imitation der Schuhplattler gebannt werden sollte,
lag im Antisemitismus der alpenländischen Volkskultur, die durch die Tanzgruppe
symbolisiert wurde. Er zeigte sich exemplarisch im Ausschluss der Juden aus dem
deutsch-österreichischen Alpenverein. Die innerösterreichische Gebirgswelt war
für viele Wiener Juden allerdings zu attraktiv, als dass sie zu ihr und damit ihrer
Kultur Distanz wahren hätten wollen. Stattdessen gab es unter ihnen den ausgepräg-
ten Wunsch, als Touristen die Berge zu genießen und die Sommerfrische in alpiner
Landschaft zu verbringen. In diesem Kontext, der von einer äußerst ambivalenten
Gefühlslage gegenüber der bergbäuerlichen Welt geprägt war, fand die Faschings-
feier des Leopoldstädter Frauen-Wohltätigkeitsvereins statt. Mit der Nachahmung der
Schuhplattler konnte der Wunsch, sich an der ländlich-alpinen Kultur zu erfreuen
und Teil von ihr zu sein, mit der Hinterfragung ihrer „anti-jüdischen Authentizität“
verknüpft werden.
Das sogenannte „Andere“, das bei den verschiedenen Kostümfesten imitiert wurde,
war um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert ein zentrales
Thema innerjüdischer Diskurse, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der
Zum Verhältnis zwischen den sogenannten Ost- und Westjuden in Wien siehe Klaus Hödl, Als Bettler in
die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien, Wien 1994.
Siehe dazu Michael Rogin, Blackface, White Noise. Jewish Immigrants in the Hollywood Melting Pot,
2. Aufl., Berkeley 1998, S. 53.
Siehe Bettina Spoerri, „Als die Alpen arisch wurden“, in : Jüdische Allgemeine 31, 2007, S. 9.
Es gibt ein bekanntes Foto von Sigmund Freud, das ihn in Wandertracht zeigt. Es mag als exemplari-
scher Beleg für dieses Begehren dienen.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519