Seite - 422 - in Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
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Siegfried Mattl
Ich werde Saltens Beiträge in Herzls Welt über „Das Theater und die Juden“ ins
Zentrum meiner Ausführungen stellen. Zuvor sei aber noch auf Manfred Dickels
abbreviatorisches Schema zurückgegriffen, das Salten innerhalb der scharfsinnigsten
Wiener Intellektuellen jüdischer Herkunft verortet. Dickel schreibt : „Die Erfahrung
von Judenfeindschaft führt bei Salten weder zu einer latenten Identifikation mit
einem kulturellen Antisemitismus wie bei Hofmannsthal, noch zu einer rein analy-
tisch skeptischen Haltung wie bei Schnitzler, weder zu einer produktiven Erfahrung
des Fremdseins wie bei Freud noch zu einem forcierten ahistorischen Assimilationis-
mus wie bei Kraus.“ Welche Position kommt dann aber Salten zu ? Da Dickel sich
einer äquivalenten Kurzdefinition von Saltens Position enthält, könnte man formu-
lieren : Felix Salten propagierte eine „schwache zionistische Identität“, um eine Ent-
lehnung bei Gianni Vattimos (emphatischem) Konzept des „schwachen Denkens“ zu
machen. Immer wieder wird man so wie in seinem Palästina-Buch Neue Menschen
auf alter Erde auf die Warnung stoßen, dass der Zionismus nicht zum Nationalismus
führen darf, sondern aus der jüdischen Erfahrung der Exklusion und Unterdrückung
das Prinzip der Mannigfaltigkeit gewinnen, verteidigen und universalisieren muss.
Ich möchte mich damit der erstaunlichen Artikelserie „Das Theater und die Juden“
zuwenden, die Salten im Sommer 1899 in Herzls Welt publiziert hat. Referenzpunkt
dieser Artikelserie war der Beschluss des Grazer Stadtrates, Juden von der Bewerbung
für die Direktion des Stadttheaters auszuschließen. Dieser manifeste antisemitische
Akt bildet aber nur ein kontextuelles Moment, das Salten nicht etwa zur Forderung
nach Einlösung des staatsbürgerlichen Gleichheitsversprechens führt. Die Begeben-
heit dient Salten vielmehr dazu, eine Konstellation infrage zu stellen, die von den
wechselseitigen Imaginationen der Antisemiten und der assimilatorischen Juden ge-
prägt ist. Anders gesagt : Salten fragt danach, ob es ein jüdisches Theater überhaupt
geben kann und was dessen Zukunft sein könnte. Paradoxerweise bewegt er sich dabei
zunächst durchaus im Rahmen der diskursiven Topoi der Antisemiten. Salten akzep-
tiert die Vorstellung, dass der Beruf des Schauspielers ein bevorzugtes und signifikan-
tes Feld emanzipierter Juden geworden sei, während es keine nennenswerten Beiträge
jüdischer AutorInnen zum Drama gäbe. Er nahm weiter argumentativ die antisemiti-
schen Stereotypien der Wurzel- und Seelenlosigkeit jüdischer Kultur auf. Im Gegen-
satz zu den Akkulturationsanhängern, die er in Herzls Zeitung selbstverständlich als
Hauptadressaten der Kritik avisierte, führte Salten nichts weniger als eine Gegenco-
dierung des zugrunde liegenden Dispositivs durch. Es sei eben die Ausnahmestellung
der Juden als Volk, wie er es ausdrückte „zwischen den Nationen“, die ihnen eine
eminente Stelle zuweise. Der Mangel an einer territorialisierten Kultur und die Er-
Vgl. Dickel, „Ein Dilettant des Lebens will ich nicht sein“, S. 431.
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Buch Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938 - Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus"
Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Titel
- Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938
- Untertitel
- Akkulturation - Antisemitismus - Zionismus
- Autor
- Frank Stern
- Herausgeber
- Barabara Eichinger
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2009
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78317-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 558
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort XI
- Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938 XII
- Was nicht im Baedeker steht Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit 1
- Jüdische Lebenserinnerungen. Rekonstruktionen von jüdischer Kindheit und Jugend im Wien der Zwischenkriegszeit 17
- Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte 39
- „Hinaus mit den Juden !“ Von Graffiti und der Zeitung bis zur Leinwand 59
- Generationenkonflikte. Die zionistische Auswanderung aus Österreich nach Palästina in der Zwischenkriegszeit 71
- Die Stimme und Wahrheit der Jüdischen Welt Jüdisches Pressewesen in Wien 1918–1938 99
- Die israelitischen Humanitätsvereine B’nai B’rith für Österreich in der Zwischenkriegszeit und ihr Verhältnis zur „jüdischen“ Freimaurerei 115
- Tempel, Bethäuser und Rabbiner 131
- Die Geschichte der Ausbildung von Rabbinern in Wien seit dem 19. Jahrhundert 143
- Martin Bubers Weg zum Chassidismus 155
- Die jiddische Kultur im Wien der Zwischenkriegszeit und ihre Positionierungen in Bezug auf Akkulturation, Diasporanationalismus und Zionismus 175
- „Wenn Dich drückt der Judenschuh“. Blicke in die moderate Wiener Moderne 197
- Karl Kraus and Gustav Mahler Imagine the „Jews“ 217
- Antisemitisch-misogyne Repräsentationen und die Krise der Geschlechtsidentität im Fin de Siècle 229
- „Being different where being different was definitely not good“ Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien 257
- „Jeder Sieg der Frauen muss ein Sieg der Freiheit sein, oder er ist keiner“ Jüdische Feministinnen in der Wiener bürgerlichen Frauenbewegung und in internationalen Frauenbewegungsorganisationen 277
- Gender and Identity. Jewish University Women in Vienna 297
- From White Terror to Red Vienna : Hungarian Jewish Students in Interwar Austria 307
- Feuilletons und Film. Béla Balázs – ein Dichter auf Abwegen 325
- Die Zukunft und das Ende einer Illusion – Sigmund Freud und der Erfolg der Psychoanalyse in den Zwanziger- und Dreißigerjahren 343
- David Vogel : Love Story in Vienna or the Metropolis 355
- Arthur Schnitzler. Facetten einer jüdisch-österreichisch-deutschen Identität 369
- Mit einem ›e‹. Zwischen Diaspora und Assimilation Ein Streit unter Freunden : Joseph Roth und Soma Morgenstern 385
- Jüdisches Leben im Wiener Fin de Siècle. Performanz als methodischer Ansatz zur Erforschung jüdischer Geschichte 399
- Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt 419
- „Schund“, „Jargon“ und schöner Schein Jüdische Erfahrung/en im jüdischen Theater 427
- Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber 439
- Frau Breier aus Gaya meets The Jazz singer Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York 463
- Österreichische Filmmusik in Hollywood – eine Annäherung 483
- Personenregister 491
- Sachregister 503
- Biografien 519